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Goran Petrović
Antonio Muñoz Molina
Yoko Tawada >

Goran Petrović

Serbien

"Vielleicht ist es jetzt an der Zeit zu sagen, dass ich nicht daran glaube, dass ein Wort oder sogar eine ganze Welt verloren gehen kann. Wenn wir nicht wissen, was ein bestimmtes Wort bedeutet oder wo sich eine bestimmte Welt befindet, heißt das noch lange nicht, das sie verlegt worden sind. Das bedeutet lediglich, dass wir etwas falsch interpretieren oder nicht imstande sind, etwas wiederzuerkennen. Meine Frau ist Archäologin. Fragmente sind für sie Schlüssel zu ganzen Epochen. Oft tröstet sie mich mit den Worten: „Nichts geht verloren, was nicht eines Tages wiedergefunden wird.“ Woraus ich schließe, dass man auch nichts als verloren deklarieren kann. Auf der anderen Seite gibt es eine alte Regel, wonach man etwas am besten dort versteckt, wo es logischerweise hingehört. Ein Buch versteckt man am besten in einer Bibliothek. Eine Nachricht in einer Zeitung. Eine Information im Cyberspace des Internets. Wir sagen gern, wir hätten etwas. Leute sagen beispielsweise, sie hätten ein bestimmtes Buch zu Hause. Selten sagt jemand, er habe dieses Buch gelesen. Alle betonen, wenn auch unbewusst, dass sie dieses Buch „haben“. Was soll ich anfangen mit drei Millionen, vierhundertsiebenundzwanzigtausendneunhundertzweiundachtzig Ergebnissen zu einem Begriff , den ich in das leere Feld der Suchmaschine eingegeben habe? Da ist, falls wir der Technik trauen, nichts ausgelassen worden. Nur ist bei diesem Scheinüberfluss vieles unauffindbar. Oder unverständlich. Ein seltenes Wort, in gleich welcher Sprache geht nie verloren. Verloren geht nur seine Bedeutung. Noch weniger kann man behaupten, dass ein häufig gebrauchtes Wort, etwa das vielzitierte Wort „Wahrheit“, verlorengegangen ist. Wir haben nur seine ursprüngliche Bedeutung verloren. Wir haben eine ganze Welt verloren, die es definierte."