Lost Words | Lost Worlds
FLUTER.DE / von Inga Rahmsdorf
Es gibt Wörter, die in Vergessenheit geraten. Es gibt Wörter, die ihre Bedeutung verändern. Und es gibt Wörter, die ganze Geschichten erzählen. 14 Schriftsteller aus 12 europäischen Ländern haben sich auf die Suche begeben nach solchen Wörtern. Herausgekommen ist das Buch "Lost Words | Lost Worlds", eine Sprachreise mit vielfältigen Blicken auf Europa, ein Buch mit ernsten, traurigen, schönen, nostalgischen, ironischen und kritischen Texten über Wörter, die verloren gehen, Begriffswelten, die damit verschwinden. Die Herausgeberinnen Kateryna Stetsevych, Katarina Tojic und Stefanie Stegmann wollen damit etwas verloren Geglaubtes an die Oberfläche bringen. Das ist ihnen auch gelungen.
Zwei Mädchen im Schrank
Bei der polnischen Autorin Joanna Bator (geboren 1968) geht es um die "wiedergewonnenen Gebiete", in denen sie aufwächst. In Bators Geburtsstadt Wałbrzych hatten vor dem Zweiten Weltkrieg Deutsche gelebt. So erzählt sie von dem Schrank ihrer Großmutter; einem ehemals deutschen Schrank in einem ehemals deutschen Haus. In diesem Möbelstück spielte die Autorin zusammen mit Helga, einem fiktiven deutschen Mädchen. Bator erzählt anhand des Schrankes und anderer Dinge und Erlebnisse, wie sich im Alltag in Wałbrzych immer zwei Bezeichnungen gegenüber standen. Was die Bewohner Wałbrzychs "wiedergewonnene Gebiete" nannten, waren für die einstigen Bewohner die "ehemals deutschen Gebiete". Die Geschichte erzählt davon, dass Bators Kindheit auch von den Menschen geprägt war, die vorher dort gelebt und Dinge dort zurückgelassen hatten. Und so erzählt sie auch von der wechselhaften Geschichte Europas.
"Lost Words | Lost Worlds" ist ein Buch mit ganz unterschiedlichen Erzählformen; Texten, die kreativ mit Wörtern experimentieren, die persönliche Erlebnisse und Biografien erzählen, die Systeme und Lebenswelten reflektieren. Zusammen zeigen sie eindringlicher als jedes politische Handbuch, wie Europa tickt, lebt und fühlt. Diese so unterschiedlichen Geschichten europäischer Autoren/innen offenbaren auch, dass nicht nur die Grenzen innerhalb Europas verschwunden sind, sondern dass inzwischen auch der Alltag und die Geschichte vieler Menschen über nationale Grenzen hinweg eng miteinander verwoben sind.
Vom Bummler zum Bummelanten
Manchmal sind es auch verlorene Wörter, die verlorene Welten wiederbeleben. So setzt sich die deutsche Schriftstellerin Katja Lange-Müller ironisch mit dem DDR-Begriff des "Bummelanten" auseinander. Der Bummelant war mehr als nur eine veränderte Form des westdeutschen Bummlers, er war Ausdruck eines ideologischen Systems. "Vom Bummler unterschied den Bummelanten, dass er nicht nur lahmarschig, schnarchnasig und schlaff war", sondern er brachte, "was schon als echt kriminell galt", seine ablehnende Haltung gegenüber dem Regime zum Ausdruck, schreibt Lange-Müller.
Der österreichische Autor und Übersetzer Martin Pollack reist in seinem Text zurück ins Internat. Das besuchten in den 1950er-Jahren auch "Dipis", Displaced Persons – so wurden damals Flüchtlinge aus Osteuropa genannt. Die Dipis stießen zwar in der österreichischen Gesellschaft auf Feindseligkeit, im Internat waren sie aber integriert. Sie gehörten zu den Jugendlichen, zu denen man aufschaute. Pollack erinnert sich an einen von ihnen, den Russen Nik, den er bewunderte. Nik trug einen Hut, war stark, konnte Messer werfen, und bei einem Wanderausflug, als alle Hunger hatten, schlug er vor, eine Ziege zu schlachten und über dem Lagerfeuer zu braten. Nik hielt nichts von Autoritäten. "Auf Ratschläge und Belehrungen reagierte er für gewöhnlich mit einem Spruch, der bald zu einem geflügelten Wort in der Schule wurde: 'Hab' ich eigene Methode!'"
Von Stulle und Sauermilch
Die deutschsprachige jüdische Schriftstellerin und Malerin Barbara Honigmann begibt sich in ihrem Essay auf eine deutsch-jüdisch-französische Reise; sie widmet sich der "Berliner Stulle". Obwohl sie seit 30 Jahren nicht mehr in Berlin lebt, sondern in Frankreich, wird dieser Ausdruck in ihrer Familie noch benutzt – zum mitunter großen Erstaunen ihrer jüdischen Bekannten. Die japanische Autorin Yoko Tawada, die in Berlin lebt und auf Deutsch und Japanisch schreibt, analysiert die europäische Kultur, indem sie von der Joghurtkultur ausgeht und über Schleimsuppe und Sauermilch schließlich bei der inzwischen weitgehend unbekannten "Setzmilch" landet.
Der italienische Musiker und Schriftsteller Nino Vetri sorgt sich um den "passio", ein noch nicht ganz verlorenes, aber bedrohtes und vernachlässigtes italienisches Wort. "Du gehst raus, willst etwas erledigen, und plötzlich packt dich der passio. Du wechselst also die Straße, schlägst einen anderen Weg ein und verläufst dich zwischen den Gassen und Plätzen", schreibt Vetri. Der passio ist nicht einfach ein Spaziergang, sondern auch eine besondere Art zu leben, mit viel Gelassenheit.
Es ist eine Kunst, nicht auf direktem Weg zu einem Ziel zu gehen, sondern stattdessen den Weg zu genießen. Genauso kann man diese Sprachreise durch Europa genießen.