Antonio Muñoz Molina
Spanien
"Der große Vorteil der Liebe zu Europa ist der, dass nichts daran natürlich ist. Niemand kann sagen, dass sie ihm im Blut liegt, dass er sie mit der Muttersprache in sich aufgesogen hat oder dass sie das Erbe einer glorreichen Vergangenheit ist. Seine Familie liebt man – manchmal jedenfalls, oder bis zu einem bestimmten Alter – so unwillkürlich, wie Tiere ihre Jungen lieben. Die Liebe zur kleinen Heimat, zur Landschaft, in der man aufgewachsen ist, stellt sich ebenso selbstverständlich ein. Sie braucht dazu nur wenige Jahre, und doch hinterlässt sie einen unvergänglichen Eindruck in unserer Erinnerung. Sogar die große Heimat namens Vaterland kann man lieben. Am besten, wenn man entsprechend indoktriniert wird. Dazu bedarf es bloß einer Schule, einer Landkarte, einer Hymne und einer einseitigen Geschichtsschreibung, die zwei Leidenschaft en bedient, zu denen wir Menschen offenbar einen natürlichen Hang haben: Opferhaltung und Narzissmus; beides Temperamente, die sich leicht zu einer kollektiven Erfahrung hochschaukeln lassen. Denn nichts fällt uns ja leichter, als uns in jenen wiederzuerkennen, die uns ähnlich sehen, die unsere Sprache sprechen und deren Haar- und Hautfarbe der unseren ähneln. Das ist genetisch bedingt und so tief in uns verwurzelt, dass es bis zum Ursprung unserer Art zurückreicht. Man braucht bloß die Bilder von im Gänsemarsch ihr Revier abschreitenden Schimpansen zu sehen, um zu begreifen, dass die militaristische Entartung der Vaterlandsliebe keine ganz neue Erscheinung ist. Schon Flaubert wusste, dass die Fahnen, die diese Liebe erwecken, immer mit Blut und Scheiße befleckt sind."