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Lauter Einzigartigkeiten
„Wir sind alle aus der Kindheit vertrieben“

Lauter Einzigartigkeiten

Insa Wilke mit Aris Fioretos im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité

„Nierensteine.“ Der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos hat uns vor einen wandgroßen Setzkasten mit bunten Kostbarkeiten geführt und erklärt heiter, was da zu sehen ist. Wir sind im Medizinhistorischen Museum der Charité, das 1899 von dem Pathologen Rudolf Virchow gegründet wurde. 300 Jahre Medizingeschichte und 750 Feucht- und Trockenpräparate werden hier ausgestellt.

Fioretos, Sohn eines Mediziners, lebt in vielen Ländern und Sprachen: Sein Vater war Grieche, die Mutter stammt aus Österreich. Geboren und aufgewachsen ist er in Schweden, hat in den USA studiert, wohnt heute aber in Berlin. Ein Lebensweg, der geradezu vorgeschrieben hat, was ihn als Autor in seinen Werken immer wieder beschäftigt: die Erinnerung und der Verlust von Orten, Menschen und Worten. Für unser Gespräch über „Lost wor(l)ds“ hat Fioretos nach einem Auftakt in seiner Berliner Wohnung diesen Ort gewählt. Dabei interessiert er sich nicht für die Publikumsrenner des Museums, den „Froschkopf“ zum Beispiel, der im dritten Stock heiter und gleichmütig in Formaldehyd schwimmt und in die Ferne träumt. Es ist dieser Setzkasten, der an ein Kunstwerk von Damien Hirst erinnert, der ihn fasziniert.

Schauen Sie, lauter Einzigartigkeiten. Verschiedene Sorten, Größen und Farben. Manche sind gestreift, andere gepunktet, diese hier viereckig...

Einige haben sogar kristalline Strukturen ...

Würden wir diese Steinchen anderswo sehen, kämen wir kaum auf die Idee, dass es Nierensteine sind. Außerhalb ihres Kontextes können wir sie nicht mehr identifizieren.

Ich habe mich schon gefragt, inwiefern das Medizinhistorische Museum ein verlorener Ort sein kann. Ausgerechnet ein Museum, dass doch Dinge, Wissen und Geschichten bewahren will, bevor wir sie verlieren. Es geht Ihnen gar nicht um den Ort, sondern allein um diese Steinchen?

Im Gegensatz zum Friedhof sind die Exponate dieses Museums nicht nur Commemorabilia und der Trauer geweiht. Es geht um Krankheit, die Bekämpfung von Schmerzen, um Menschenbilder und Ideologien der Medizingeschichte. Mich interessiert das, weil ich glaube, früher oder später neigen Autoren dazu, sich selbst in ihrem Werk auseinander zu nehmen. Wir sind immer auch Vivisekteure am Selbst, Introspekteure. Aber man kann sich nicht restlos auseinandernehmen. Dann gäbe es keine Instanz mehr, die ungeschützt wäre, von der aus wir uns betrachten können. Es gibt immer unzugängliche, blinde Flecken. Man schöpft aus ihnen und möchte ihnen trotzdem nicht vollständig auf die Schliche kommen.

Und die Nierensteine sind solche blinden Flecken?

Es wird oft behauptet, „gute“ Literatur sei „lebendig“.Aber Literatur „lebt“ nicht wie wir es tun, die aus Haut und Knochen und Schleimhäuten bestehen. Worte sind zwar Errungenschaften von Menschen. Sie sind man-made und werden in die Welt gesetzt, leben dort jedoch kein organisches Leben. Diese Steinchen sind Produkte der Nieren. Sie wurden irgendwann ausgespuckt und sind sozusagen durch den Körper hindurch gegangen, um als Abtreibung in die Welt zurückzukehren. Das ähnelt diesen kleinen Ballungen von Buchstaben, die wir Worte nennen.

Nierensteine sind also Ihre Metapher für verlorene Worte, die vom Sprachkörper abgestoßen wurden?

In der Tat, so könnten verlorene Worte in 3D aussehen. Diese Steine sind so schön und geschliffen und haben doch so viele Schmerzen verursacht. Kein Stein ist identisch mit dem anderen, sie lassen sich aber nach Formen und Farben sortieren – wie Verben, Konjunktionen, Adverbiale... Vage erinnern sie mich daran, dass man im Judentum Steine zu den Gräbern trägt, als kleine Erinnerung an die Herkunft der Verstorbenen. Man bringt ein Stück Heimat zum Grab, wo auch immer in der Welt dieser Mensch bestattet worden ist. Die Nierensteine sind ferne Anverwandte solcher Steinchen, die übrigens auch den unruhigen Geist des Verstorbenen festhalten sollen. Und sie ballen sich um etwas, das nicht mehr entsorgt und bearbeitet werden kann.

Der Nierenstein symbolisiert für Sie demnach einen Erinnerungsort in der Sprache für verdrängte, nicht nur verlorene Realitäten. Erinnerungsorte sind ja nicht nur Orte, die im proustschen Sinne Erinnerung hervorrufen, sondern auch innere Orte, die man nicht in der Außenwelt auffindet und zeigen kann. Man kann nur von ihnen erzählen.

Erinnerung ist ein Schauplatz, auf dem sich die Vergangenheit mit dem Jetzt auseinandersetzt. Sie ist ein aktives Medium, eine Art, in der Zeit mit der Zeit über die Zeit nachzudenken. Verluste werden nur erzählt, wenn die Erfahrung davon selbst nicht verloren gegangen ist. Donald Rumsfeld hat, als er noch Bush Juniors Verteidigungsminister war, auf einer Pressekonferenz gesagt: „Es gibt Sachen, von denen wir wissen. Es gibt Sachen, von denen wir nichts wissen. Es gibt Sachen, von denen wir wissen, dass wir nichts von ihnen wissen. Und dann gibt es Sachen, von denen wir nicht wissen, dass wir nichts von ihnen wissen.“ Die letzte Kategorie, das sind die puren Verluste. Über sie wissen wir allerdings nicht einmal, daß sie gemacht worden sind. Gewissermaßen sind sie doppelte Verluste.

Haben Sie trotzdem eine Wirkung?

Genau auf dieser Prämisse wurde damals in den USA zumindest die ganze Anti-Terror-Doktrin aufgebaut. Nach dem Motto: „Wir wissen nicht, was wir nicht wissen. Also müssen wir alles tun, um das Nicht-Wissen ins Wissen zu holen – wenn auch nur in negativer Form, als Nicht-Wissen.“ Eine Konsequenz davon war eine Doktrin der Prävention, die vorbeugend und auf bisher beispiellose Art und Weise Informationen über die Einwohner Amerikas, aber auch über Besucher aller Art, sammelte.

Jetzt bringen Sie eine sehr konkrete politische Dimension in dieses Thema „Lost wor(l)ds“: Es geht um die Legitimation politischer Strategien, nicht um die Befindlichkeit einer Gesellschaft.

Der „Kampf gegen den Terror“ ging auf den Mega-Verlust namens „9/11“ zurück. Solchen Verlusterfahrungen wollte man damals auch noch mit Präventivschlägen gegen mutmaßliche Terroristen mit mutmaßlichen Atom- und Chemiewaffen vorbeugen. Da ist viel Unheil in die Welt gekommen. Aber das hat wenig mit unseren verlorenen Welten zu tun.

Wieso nicht?

Weil Melancholie ein geistiger Zustand ist, in dem man über Verlust nachdenkt oder damit umgeht. Er zeichnet sich durch eine gewisse Passivität aus, oft auch durch Unschlüssigkeit, Handlungsunfähigkeit. Psychologen sprechen von fünf Stadien der Trauma-Verarbeitung: denial, anger, bargaining, depression und acceptance. Auf Deutsch etwa: Verneinung, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Nach den beiden einstürzenden Türmen, haben die Amerikaner diese fünf Phasen der Trauerarbeit im Schnellverfahren durchgemacht. Ging das in unserem medialen Zeitalter vielleicht etwas zu schnell, so daß die Stadien durcheinander gerieten? Oder erlebten wir nicht einen militarisierten Zorn, der sich weniger aus Verneinung oder Akzeptanz, als eben aus Zorn speiste? Nach dem Motto: hart auf hart. The empire strikes back. Wenn die Unternehmungen der Rumsfeld-Leute nach 9/11 durch irgendetwas gekennzeichnet waren, dann wohl am ehesten durch die Abwesenheit von Melancholie. Sie waren aggressiv, offensiv, wollten keinen Stein auf dem anderen ruhen lassen.

9/11 steht für eine Zäsur, die auch das europäische Weltbild erschüttert hat. Auf einmal wurden die aufklärerischen Traditionen infrage gestellt. Das berührt den Kern des europäischen Selbstverständnisses und bewirkt Verlustgefühle und Verunsicherung. – Was sagt es eigentlich über eine Gesellschaft aus, wenn sie sich vornehmlich über Verluste definiert oder, sagen wir, sich obsessiv mit Verlusten beschäftigt?

Ein Verlust muss nicht nur negativ sein. Ich weiß auch nicht, ob die heutigen „Verluste“, die zum Beispiel durch Migrationsbewegungen, aber auch durch soziale Verschiebungen für die Bewohner des Einwanderungslandes entstehen, tatsächlich nur negativ bewertet werden. Wie man mit Veränderungen umgeht, ist der Schlüssel. Es gibt Länder, die überkompensieren, weil sie durch Veränderungen ihre nationale Identität bedroht sehen. Sie kompensieren ihre Furcht durch Angriff. Nationalismen funktionieren oft so.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen Sie Griechenland. Dieses kleine Land am Rande des Kontinents wurde erst im 19. Jahrhundert gegründet, war aber mit einer gloriosen Vergangenheit ausgestattet. 1844 wurde die sogenannte „große Idee“ ausgerufen, die sich aus dem Gefühl entwickelt hatte, nach der langen Zeit unter osmanischer Fremdherrschaft sich nun als eigenständige Nation die Vergangenheit zurückholen zu wollen. Das hieß: Griechenland sollte wieder das Territorium umfassen, das Alexander der Große einst beherrscht hatte. Expansionspolitik und Aufrüstung waren die Folge. Das Land unternahm die idiotischsten Dinge geopolitischer Natur. 1922 führte dieser Aktionismus letztlich zur „großen Katastrophe“, wie die Griechen die Geschehnisse nennen: die griechische Minorität, um die zwei Millionen Menschen, wurden aus der Türkei geworfen oder ermordet. Diese Logik von Verlust, aggressiver Kompensation und neuem Verlust hat eine traurige Fähigkeit, sich immer wieder zu wiederholen.

So gesehen liegt nationalistischen Bewegungen auf der Gefühlsebene eine falsche Auffassung von Verlust zugrunde?

Man geht nicht produktiv mit der Verlusterfahrung um. Man versucht nicht, sich durch sie neu zu definieren, sondern ist allein darauf fixiert, zurückzuholen, was mal da war. Aber die Zeit ist weitergelaufen und Verschiebungen haben stattgefunden. Verlorenes lässt sich nie intakt zurückholen. Man müsste von den Verschiebungen und Umwerfungen, die inzwischen stattgefunden haben, ausgehen.

Wie wirkt sich das – wir sprechen ja nicht nur über „lost worlds“, sondern auch über „lost words“ – in der Sprache aus?

Jeder Nationalismus erfindet seine eigene Sprache, seine eigenen Bilder; oft sind sie rückwärtsgewandt. Die griechische Militärdiktatur staubte Ende der 1960er Jahren alte Ideale ab und erfand ein doch recht albernes Griechisch, das nach Weihrauch und Waffenöl roch. Diese Obristen waren ja nicht unbedingt besonders gebildeten Menschen. Hört man diese Sprache heute, klingt da vor allem der große Wunsch mit, endlich einmal ernst genommen zu werden. Lachhaft, aber dieses Bedürfnis hatte fatale Konsequenzen. Es hat zum Teil auch die Sprache verseucht. So ist es ja besonders ausgeprägt im Falle der deutschen Sprache. Die Rhetorik zweiter Diktaturen hat hier auch das sprachliche Terrain vermint. Sie macht den kindlichen Glauben an unschuldige Worte unmöglich.

Ein Wort wie „Rampe“ ist noch da, kann aber nicht mehr einfach so im Alltag verwendet werden, weil die Selektion in Auschwitz so eng mit diesem Wort verbunden ist.

Das Wort befindet sich quasi im Glasschrank. Wir sehen es dort und wissen, was es bedeutet. Aber seine Verwendung ist kaum mehr zulässig. Es gibt in der Tat politische und historische Geschehnisse, die die Sprache krank machen. Eine weitere Form des Verlustes.

Kehren wir in die heutige Zeit zurück: Durch das Sprechen über Europa bilden sich neue Worte oder werden bewusst eingeführt – von Technokraten. Könnte dieser Versuch, eine „europäische Sprache“ zu installieren, auch fatale Konsequenzen haben?

Ich finde sehr lobenswert, dass die europäischen Institutionen immer Dolmetscher, die drei Sprachen beherrschen, beschäftigen, um bei Verhandlungen dann drei mal drei Sprachen vertreten zu können. Das ist natürlich kein besonders geiziger Umgang mit Zeit und Geld. Die Vorgänge werden so auch leicht umständlich. Die ... seduction .... jetzt fällt mir das deutsche Wort nicht ein ...

...die Verlockung...

... ist folglich groß, alles zu standardisieren. Zum Beispiel, indem man Englisch als lingua franca einführt. Das hat natürlich Konfliktpotential. Die Franzosen würden sich die Priorität ihrer Sprache sicherlich nicht nehmen lassen. Die Deutschen würde wahrscheinlich versuchen, Europa und gleichzeitig dem eigenen Land gerecht zu werden. In Schweden dagegen, diesem Land, das von Bauern gegründet und von Ingenieuren in die Moderne geführt wurde, ist alles auf „Lösungen“ und „Lösbarkeit“ ausgerichtet. Dort ist man besonders empfänglich für funktionale Kompromisse. Die Schweden wären in Brüssel also sofort bereit, ins Englische zu wechseln. Im Zweifelsfall glauben sie wohl sogar, dass sie besser Englisch sprechen als die Muttersprachler. (lacht)

Das ist doch ein Gewinn, das Schwedische geht ja nicht verloren!

Als Vertreter eines Landes verlierst du aber einen Spielraum, eine Souveränität, wenn du in einer Fremdsprache sprichst. Die Sprache als diplomatisches Verhandlungsmittel aus den Händen zu geben, scheint mir töricht zu sein. Noch wichtiger ist aber, dass die sprachliche Vielfalt der Kern der europäischen Identität bleiben sollte.

Wer zweifelt das jenseits der pragmatischen Notwendigkeit in Brüssel an?

Die EU ist ein unfertiges Gebilde, davon wurde in letzter Zeit viel gesprochen. Sie wurde, wie Sie sagten, von Technokraten rasch gegründet, wofür es gute und auch einige weniger gute politische und historische Gründe gab. Als es brenzlig wurde und sich abzeichnete, dass das Projekt Europa nicht einmal eine Fiskalunion hatte und an den Steuerpolitiken der einzelnen Mitgliedsländer scheitern könnte, äußerte Jacques Delors, einer der Gründungsväter der Union, den Wunsch: Man müsse Europa „eine Seele“ geben. Das war verständlich, aber verkehrt gedacht. Natürlich hat Europa mehrere Seelen und natürlich sollten sie von unten nach oben fühlbar und nicht wie Medizin verordnet werden. Die Frage ist bloß: Wie macht man das? Das kann ich nicht sagen, aber ohne das Bewusstsein für die Vielfalt der Seelen wird dieser Kontinent seinen Zusammenhalt nicht finden. Es kommt auf die Differenzen an. Vielleicht sind sie es, die uns einen.

„Seele“ klingt heute merkwürdig veraltet, wie ein fast schon verlorenes Wort. „Erzählung“ wäre vielleicht der zeitgemäßere Begriff? Brauchen wir eine europäische Erzählung?

Das Master-Narrativ sollte man wohl klugerweise in Klammern setzen, weil es erdrückend wirkt und Gegenerzählungen provoziert. Auch Erzählungen sollte es nur im Plural geben. Brüchigkeit gehört zur europäischen Identität. Wie findet man als Roman-Autor dafür eine Form? Aleksandar Hemon, ein Autor bosnischer Abstammung, der heute in Amerika lebt und den ich schätze, schreibt deutlich in europäischen Erzähltraditionen, bewegt sich aber im amerikanischen Kontext. Das macht seltsame Sachen mit seiner Prosa. Die historischen und sprachlichen Verwerfungen werden bei ihm nicht synthetisiert. Das scheint mir ein möglicher – und zudem ein spannender – Weg zu sein.

Ein Muster für europäische Erzählungen könnten die Metamorphosen von Ovid sein: Grenzen als Verwandlungen erzählbar und durchlässig machen. In Ihrem Essay für „Lost Wor(l)ds“ verflüssigen Sie auch Übergängen, die Übergänge des Sprechens über den Roman, über Europa und über die Zukunft. Der Leser muss entscheiden, wovon gerade die Rede ist.

Wir leben in Zeiten, in denen alles ständig formatiert werden soll. Ich kann mich mit dieser Format-Ideologie nicht ganz anfreunden und schon gar nicht damit, dass der Roman eine feste, schon längst festgelegte Form haben sollte. Die Gattung ist so jung, und war immer in Bewegung. Natürlich hat das ehemalige Zeitungsfeuilleton, in dem Dickens, Balzac und andere ihre Romane erst portionsweise publizierten, der Gattung gewisse marktorientierte Vorgaben gemacht. Heute verlangt der globale Erfolg eine gewisse Wiedererkennbarkeit. Manchmal kommt es mir so vor, als ob du als Autor entweder nur die Form oder nur den Inhalt fremd machen darfst. Verfremdet man Form und Inhalt, scheint sich dein Buch nicht verdauen zu lassen.

Ihre beiden letzten Bücher „Der letzte Grieche“ und „Die halbe Sonne“ sind wie Wörterbücher strukturiert, Wörterbücher der Erinnerung. In beiden Büchern erzählen sie im Rückblick, als „Rückwärtsgesang“, die Geschichte von einem griechischen Migranten und seiner Familie. Sie sind auch Professor für Ästhetik. Kann der Professor Fioretos etwas über die Erzählform sagen, diese Poetologie der Offenheit, dieses Sprach-Netz, zu dem auch die Lücken gehören?

Der Professor für Ästhetik wird, wenn ich literarisch arbeite, bitteschön zur Besenkammer bestellt und dort schleunigst eingesperrt. Als Autor muss man auf die Intuition vertrauen, sonst entsteht selten Interessantes und es werden eher die eigenen theoretischen Vorlieben und Schwächen bestätigt werden. Aber die Idee vom Geflecht finde ich verlockend. Ja, da sind Sorgen, Schmerzpunkte, Empfindlichkeiten, die Dinge zusammenbringen, aber auch verknoten. Gordische Knoten, wenn man so will, die nicht immer zu lösen sind. Mir schien wichtig zu sein, dass ein System, das lose geknüpft ist und auch aus Verknotetem besteht, trotzdem etwas auffangen kann.

Was meinen Sie damit genau?

Ich hatte den Wunsch, etwas zu tun, was sonst eher mit Gegenständen gemacht wird: Wir kenne das alle von Auslandsreisen. Man bringt Souvenirs aus der Ferne mit. Meistens sind sie belanglos, erinnern uns aber an bestimmte Erlebnisse. Potenziert man diesen Vorgang, findet man sich bei de Migranten wieder, die in der Regel wenige Dinge mitbringen, die sie an ihre verlorene Kultur erinnern. Das kann eine Spieldose sein, eine Ansichtskarte, ein Brief oder ein Foto. Für den Einen sind das bedeutungslose Gegenstände, für den Anderen bergen sie Geschichten. Sie sind affektiv aufgeladen, verpackte Energien. Ähnlich ist es mit Worten, die an verlorene Zusammenhänge erinnern. In „Der letzte Grieche“ wird zwar von Verlusten erzählt, aber die Erfahrung dieser Verluste durfte nicht verloren gehen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, wir sind hier weit von der grünen Wiese des Fußballs entfernt, aber in gewisser Weise „siegt“ die Literatur nur, in dem sie Verluste speichert.

Jenny Erpenbeck erzählt in ihrem Roman „Aller Tage Abend“ von der Erinnerung an Menschen, die mit den Dingen verbunden ist. Vergisst man, was die Dinge bedeuten, vergisst man auch den mit ihnen verbundenen Menschen und verliert einen Teil der eigenen Existenz. Ist das mit Worten genauso?

Wir können Worte nur ausleihen. Sie gehören uns nicht. Ähnlich ist es oft mit den Gegenständen, die in einer Familie eine Rolle spielen. Vor einigen Jahren wurde mir die Taschenuhr meines Großvaters geschenkt. Er ist 1956 gestorben. Ich habe ihn nicht gekannt, er starb vor meiner Geburt, aber er war wohl ein Patriarch und spielte in seinem Dorf eine gewisse Rolle. Man stellt sich also vor, wie dieser Mann, im örtlichen Kafeneion sitzend, die Uhr mit gewichtiger Geste aufgeschlagen hat, um nach der Zeit zu schauen. Es war klar: Das ist ein wichtiges Objekt, mit dem Anekdoten und Geschichten verbunden sind. Die jüngeren Generationen verformen sie und projizieren eigene Phantasien in diese Taschenuhr und damit auch in die Erinnerung an den Großvater. Als ich die Uhr nun bekam, sah ich, dass in den Deckel zwei Initialen geprägt waren. In lateinischer, nicht in griechischer Schrift – und es waren nicht die Initialen meines Großvaters. Ich habe keine Ahnung, wer diese Person ist, der die Uhr einmal gehört hat. Aber in ihren Initialen stecken unzugängliche, verschlüsselte Erzählungen.

Das verändert auch das Bild vom Großvater.

An diese versteckten Geschichten in der Geschichte kommst du nicht ran, trotzdem werden sie wie Phantome vermittelt. Als gäbe es etwas innerhalb der Worte oder Gegenstände, das Geheimnis bleibt, obwohl es von Hand zu Hand weiterwandert. So ist es übrigens oft mit tragischen Erfahrungen frühere Generationen: Sie werden verschwiegen, aber das Verschweigen wird auf seltsamen Wegen vermittelt. Hierzulande ist das ja inzwischen fast die Definition des Deutschen im 20. Jahrhundert.

Ihr Anliegen als Schriftsteller ist es aber gerade nicht, dieses Geheimnis aufzulösen, die Lücken zu füllen?

Leerstellen und Lücken haben auch als solche eine Bedeutung. Man kann sie in gewisser Weise auch weiterschreiben. Nelly Sachs nannte dies einmal „die Wunde lesbar machen“, sie also nicht durch unmögliches Verstehen schließen oder heilen zu wollen, sie aber auch nicht schmerzhaft offen lassen. Sondern umsetzen, weiterschreiben, lesbar machen.

Hat jede Lücke ihr individuelles Wesen?

Tucholsky sagte einst: „Wo ein Loch ist, gibt es auch eine Kante.“ Diesen Saum nachzuzeichnen, der Lücke einen Umriss, eine Kontur zu geben, finde ich nach wie vor eine wichtige Aufgabe. Ich neige nicht dazu, Literatur mit viel Weihrauch zu betreiben. Aber sie hat auch wenig mit Ausbuchstabieren zu tun. Man muss sich im Spannungsfeld zwischen Auslassen und Zulassen bewegen, um Verlusten gerecht zu werden.

Können Wörter und Geschichte überhaupt verloren gehen? In Leipzig, während der Buchmesse, sagten Sie, dass Sie der Verlust von Worten gar nicht so sehr interessiere, sondern eher ihr Wandel. Anderswo haben Sie diesen schönen Satz gesagt: „Der uralte Traum der Metamorphose ist die DNA der Literatur.“ Wie passt diese Vorstellung der Verwandlung, durch die ja nichts wirklich verschwindet, zur Idee des Verlustes, der Lücke und Abwesenheit, die für Sie als Autor so wichtig ist?

Wandel ist eine Form von Metabolisierung. Man verdauert etwas und setzt es anders um. Natürlich gibt es auf Unverdauerbares. Und zudem Lücken. Auch sie sind Bestandteile der Verwandlung. Worte sind meistens irgendwo aufgezeichnet und abrufbar; sie gehen nicht heillos verloren. Worte sind außerdem promiskuös. Sie sind eigentlich eine Art Koffer, die wir mit Meinung und Sinn füllen. Wir können in diese Träger alles Mögliche reinstecken. Die Koffer, die Worte als solche sind nicht aus der Welt zu räumen. Aber sie können verschlüsselt und hermetisch, unverfügbar werden, weil wir keinen Zugang mehr zu dem haben, was sie einmal transportiert haben. Da geht etwas verloren. Ein solches Wort wird zu einem unbekannten Epitaph. So als wäre man auf einem Friedhof und wüsste nicht mehr, wer unter diesem Stein liegt.

Gibt es andere Sorten verlorener Worte?

Zum Beispiel wenn einem plötzlich das Wort, das man sucht, nicht mehr auf die Zunge kommt. Es ist verloren oder hat sich gerade versteckt. Solche Worte ähneln Mäuse, die man vergeblich versucht zu fangen. Die Worte wollen nicht mehr auf der Zunge tanzen, sondern drücken sich irgendwo hinter den Zähnen oder im Kehlendunkel herum. Der Verlegenheit entkommt man, indem man nach Alternativen sucht. Die Verlusterfahrung führt also zur Entdeckung anderer Welten. Wie bei Wasser, das blockiert wird und sich einen anderen Weg suchen muss, umgeht die ratlose Zunge den Verlust, in dem sie dem Redefluss einen anderen Verlauf gibt.

Die Ehefrau in „Die halbe Sonne“ sagt über ihren gealterten Mann: „Die früheren Ausgaben bewegen sich in seinem Inneren wie andere Versionen des Menschen, den sie liebt. (...) Und er vertieft sich einwärts, in einem Korridor perspektivischer Verkleinerung, als trüge der Körper seine eigene Unendlichkeit in sich.“ Das kann man auf Worte übertragen.

Durchaus. Auf der einen Seite steht die Vorstellung der Evolution: Wissen, Gefühle und Welten werden durch die Literatur vorwärts geschrieben. Aber es gibt auch die Involution. Das ist der umgekehrte, nach innen gerichtete Vorgang. Worte gleichen kleinen Involutionen, wenn man erst einmal anfängt, sie aufzublättern. Nehmen Sie bloß das Wort Finsternis, das Paul Celan in seinem berühmten, weil mutmaßlich hermetischen Gedicht „Blume“ verwendet hat. Schärft man den Blick, findet man das Wort Stern darin, sozusagen im Dunkeln versteckt – ein Wort, das sogar von den Silben Fin und is umgeben wird. Diese Klammer, dieses finis, ist einem Dichter, der Mallarmé vielleicht „zu Ende“ denken wollte, sicherlich nicht verborgen geblieben. Und wie Celan wusste, tragen Worte weit mehr als nur Bedeutung mit sich: Sie haben Farbe, sie riechen, sie besitzen phonetische Eigenschaften. Diese „Oberflächlichkeiten“ werden manchmal Teil der Bedeutung. Das etwas „rinnt“ und „rauscht“ hat auch mit dem „r“ zu tun, wie schon Platon wusste, als er im Dialog „Kratylos“ den Sinn von Rhythmus erforschte. Für manche Autoren bleiben Worte hingegen transparent. Sie haben keine Hülle, sie führen direkt zum Inhalt. Das sind unterschiedliche Empfindlichkeiten. Die Sprache lässt beide zu.

Sie sind selbst mit mehreren Sprachen aufgewachsen. Über die Beherrschung einer fremden Sprache erzählt die Übersetzerin Esther Kinsky eine Kindheitsanekdote. Als sie ihren Vater gefragt hat, woran man merke, das man eine Sprache ganz und gar kenne, habe der geantwortet: „Das weißt du dann, wenn du bei dem Wort für Blau ein ganz anderes Blau siehst als auf Deutsch und bei dem Wort für Berg einen ganz anderen Berg.“ Ist man in jeder Sprache auch ein anderer Mensch?

Natürlich. Ich glaube allerdings, dass die Verhältnisse einen Unterschied machen. Wenn man mit Eltern aufwächst, die aus unterschiedlichen Ländern kommen und sich in einer dritten Sprache zu orientieren versucht, dann ist es schwierig als Kind und später als Autor, Worte und Sprache als etwas „Natürliches“ wahrzunehmen. Alles ist immer schon mit Fremdheit infiziert. Sprechen die Eltern die neue Sprache, hört man als Kind fremde Bewegungen darin. Es wirkt, als passten die Kleider nicht ganz so wie sie sollten. Als seien die Gesten immer etwas größer oder grober als bei den Muttersprachlern. Plötzlich stößt ein Ellenbogen aus dem Sprachkörper heraus und man sieht, da ist etwas in Bewegung, das einmal ein ganz anderes Bewegungsmuster gelernt hat, das sich aber nun zurecht finden muss in diesem fremden Gewand.

Was hat diese Erfahrung für Sie bedeutet?

Das Wissen, dass ich in einer anderen Sprache auch eine andere Person bin, ist Teil meiner Identität. Ebenso die Frage: Wo stecke ich? – Ein wenig überall, lautet wohl die aufrichtige Antwort. Es gibt nicht die eine Person. Das ist ein anderes Lebensgefühl als für jemanden, der monolingual aufgewachsen ist und dann eine Fremdsprache lernt. Wir „Vielmüttersprachler“ sind immer ein wenig verstreut, uns gibt es nur als ein „Zu viel“ oder ein „Zu wenig“, aber nie exakt. Sie ist ein komisches Gefühl, diese Sprachidentität. Berlitz, der jüdische Schwabe, der in den USA aufwuchs und Gründer der berühmten Sprachschulen wurde, soll angeblich mit sieben Jahren mit jedem seiner Verwandten, die aus der deutschen Provinz, aus Polen, der Ukraine und anderen Ecken der Welt kamen, eine andere Sprache gesprochen haben. Er soll gedacht haben, jeder Mensch spricht seine eigene Sprache.

Was ja in gewisser Weise auch stimmt.

Er meinte es wahrscheinlich radikaler. Celan deutete in seiner Büchner-Preis-Rede an, man werde auf eine andere Weise hellhörig, wenn man in mehreren Sprachen erzogen worden ist. Man sieht Worte als Kontur und Gestalt, als etwas, das sich auch in Gänzefüßchen bewegen kann. Meistens werden solche Menschen, wie eben Celan oder auch Oskar Pastior, Sprachäquilibristen. Sie versuchen, diese komische Opulenz, dass alles für sie etwas mehr und etwas weniger bedeutet als für die Anderen, gerecht zu werden. Das muss nicht nur ein Aufatmen und eine Erfahrung der Freiheit bedeuten, sondern kann auch gefährlich werden. Auf einmal befindet man sich weder in der einen noch in der anderen Sprache, nicht ganz.

Bedeutet es auch die sehr frühe Erfahrung, dass Sprache und Verlust zusammenhängen? Ein Teil der Persönlichkeit verschwindet ja mit der alten Sprache, dafür ist mit der neuen Sprache etwas anderes gewonnen. Ihre Vaterfigur sagt einmal „Das neue Land ist eine Bedrohung für das alte.“ Bezogen auf Sprache und Worte hieße das vielleicht, dass es doch den vollkommenen Verlust von Worten und den mit ihnen verbundenen Welten gibt.

Menschen, die monolingual aufgewachsen sind, spüren einen solchen Verlust stärker. Für uns Andere ist die Bedrohung vielleicht nicht ganz so groß. Wir haben früh gelernt, den Verlust auch als Verwandlung zu sehen. Aber wer bin ich, für Andere zu sprechen.

Der Germanist und Arabist Nabil Osman hat in den 1970er Jahren ein erfolgreiches Lexikon veröffentlicht: „Kleines Lexikon untergegangener Wörter“. Eine wahre Schatztruhe. Im Nachwort schreibt er unter dem Titel „Wortuntergang“: „Alle Veränderungen der Kultur berühren in erster Linie den Wortschatz einer Sprache.“ Stimmen Sie dem zu?

Ja und nein. Es gibt Sprachen und Kulturen, die kaum zulassen, dass fremde Worte eindringen. Isländisch zum Beispiel. Gerade im Bereich der digitalen Kultur wird in Island für jedes neue Wort eine einheimische Entsprechung erfunden. Aber ich sehe die größte Herausforderung für eine Sprache nicht im Lexikon, sondern in den Veränderungen syntagmatischen Strukturen. Ein Wort wie „aufpimpen“ macht nichts Besonderes mit der Sprache und schon gar nicht, was es behauptet, zu bedeuten. Wenn aber Präpositionen durch unbekannte Verwendung angegriffen werden, verbreitet sich Unsicherheit. – Solange, bis die bisher „falsche“ Verwendung eingebürgert worden ist. So funktionieren Sprachen, es gibt keine ein für allemal feste Norm. Wer nicht duldet, dass es in der Sprachkunde keine unumstößlichen Gesetze, sondern eher Empfehlungen gibt, hat ihr Wesen schlecht verstanden.

Aber Welten sind doch eher an Verben und Substantive gebunden. „Landsmann“ ist so ein Wort, dass mir in Paul Berfs Übersetzung von „Der letzte Grieche“ aufgefallen ist. Es wird heute im Deutschen nicht mehr verwendet. Was verschwindet mit einem solchen Wort?

Gesellschaftliche Umgangsformen und Hierarchien werden durch das Verschwinden sicherlich teilweise neu geordnet. Manchmal führt eine solche Veränderung zu etwas Besserem. Sie ist dann aber nicht mehr sprachlicher Natur.

Die Welt ist eine andere geworden, der gesellschaftliche Wandel geht dem sprachlichen voraus.

Mit dem Landsmann ist die Vorstellung verschwunden, dass es eine – in erster Linie patrimonische – Gemeinschaft gibt, die sich dadurch kennzeichnet, dass man einer Kultur und Geographie zugehörig ist. Wir stellen uns heute lieber Gesellschaften vor, die dann auch zufällig deutsch oder singapureanisch sind. Alle können – hoffentlich, theoretisch – Deutsche werden. Das ist beim Landsmann nicht unbedingt der Fall. Als geborener Schwede kannst du zwar Deutscher, aber eher kein Landsmann im herkömmlichen Sinne werden.

Sie haben in den USA studiert. Man sagt immer, dass es dort besser funktioniere, eine Gemeinschaft zu bilden und trotzdem unterschiedlich zu sein.

Auf dem Papier vielleicht. Auch in den USA gibt es Ängste, die mit Ethnien und Herkünften zu tun haben. Aber die Definition von Amerikaner ist anders konstruiert als unsere nationalen Identitäten in Europa. Ein Amerikaner kommt früher oder später in der Geschichte immer von woanders her. Es ist prinzipiell für jeden möglich, Amerikaner zu werden. Das heißt aber auch, dass man vorher schon irgendetwas war. Hinreißend komisch ist das alte Bild vom „melting pot“: Die Ausländer, unterschiedlicher Couleur und Kleidung, reihten sich auf, stiegen in diesen Topf, in dem ihre alten Identitäten zusammengekocht wurden und wurden anschließend, nun alle ähnlich, als Amerikaner mit der Kelle herausgeholt.

Gilt das Bild noch?

Heute spricht man eher von „salad bowl“: Die Zutaten behalten ihre Identität, nehmen aber teil am übergeordneten Salad. Eine Tomate aus Südafrika bleibt Tomate, eine schwedische Gurke bleibt Gurke. Diese Vorstellung beruht nicht länger auf Assimilation und Umformung. Ich glaube, Europa sucht gerade nach dem Überbegriff für das, was hier stattfindet.

Warum ist diese Suche offenbar so schwierig?

Weil wir lange Zeit getrennt in Nationalstaaten lebten, und weil in Amerika die englische Sprache die Menschen immer noch verbindet. Das bricht jetzt allerdings auf. Das Hispanische bildet inzwischen fast eine zweite Nationalsprache und die asiatischen Sprachen wachsen. Auch die USA werden sich in den nächsten Generationen verändern.

An Schriftsteller wird immer wieder die Frage gestellt, ob ihre eigentliche Heimat in der Sprache liegt. Es gibt ein Gedicht von Thomas Brasch, dass er Christa Wolf 1994 zum 65. Geburtstag geschrieben hat. Also, nachdem die DDR verschwunden war und nachdem der Literaturstreit um Christa Wolf und die linken Schriftsteller in Ost- und Westdeutschland ausgebrochen war. Es heißt „3 Wünsche für C. W.“ und verbindet Ort, Wort und Ich. Man kann das Gedicht so verstehen, dass es behauptet, es gebe einen Ort, den man sich erschreiben, an dem man zu sich kommen könne.

Das ist seltsam an diesem Wort „Wort“ im Deutschen. Es klingt ein wenig hart, fast als wäre es ein Sprachatom. Und es enthält wenigstens ein weiteres Wort, den „Ort“. Damit wurde in der deutschen Dichtung immer wieder gespielt, wie etwa in der dritten Fassung von Hölderlins Hymne „Der Einzige“:

Es bleibet aber eine Spur

Doch eines Wortes; die ein Mann erhaschet. Der Ort war aber

Die Wüste.

Über diese „Spur eines Wortes“, diesen „Ort“, der im Gedicht migriert und zur „Wüste“ geworden ist, wäre sicherlich einiges zu sagen. Das Wort ist einfach kein sonderlich raumloyales Ding. Es bewegt sich und verschwindet, wenn man es ausgesprochen hat. Es ist immer andernorts zu finden, versetzt und manchmal auch verändert, trotzdem trägt es, als „Wort“, diese Örtlichkeit, diese Verräumlichung in sich. Vielleicht ist das zweite Wort, das man im deutschen Wort „Wort“ finden kann, nämlich das „wo“, so etwas wie die Frage des Worts an sich selber: „Wo bist du, Wort?“ Ein faszinierender Gedanke, dass ein Wort seine stets fragliche Räumlichkeit mit sich herumtragen kann.

Wie ist das im Schwedischen?

Da heißt es leider nur „ord“. Man könnte das „d“ härter aussprechen und wäre dann auch beim „Ort“. Aber das funktioniert nicht wie im Deutschen. Da ist so schön, dass, wenn man das Wort noch ein wenig entkleidet, etwas Zusätzliches drin steckt: nämlich dieses „O“, ein Vokal, aber auch ein rundes Ding mit einem Hohlraum, der schlichten Markierung eines Platzes – das Loch mit der Kante.

Teilen Sie die Vorstellung, dass es für Schriftsteller einen Ort, einen Fluchtort oder gar eine Heimat in der Sprache gibt?

Ich bin ambivalent. Der Gedanke reizt mich, dass Sprache ein Zuhause sein kann. Aber ich habe Kollegen so oft darüber sprechen hören, dass es mir fast zuwider ist inzwischen. Die Behauptung hat nicht selten etwas zugleich Pietätvolles und Selbstlobendes, das mir nicht gefällt. Und es geht das Schweigen verloren, das genauso zur Sprache gehört. Wer nicht monolingual aufgewachsen ist, möchte sich wahrscheinlich umso weniger auf Kosten der einen Kultur mit einer anderen loyal erklären. Das ist wie bei Trennungskindern, die sich nicht für ein Elternteil entscheiden möchten. Man darf sie nicht mit Zugehörigkeitserklärungen belästigen. Für „Vielmüttersprachler“ gilt: Wir befinden uns zwischen den Sprachen, zwischen Kulturen. Das ist so lange keine Zumutung und als produktiv, wie wir nicht gezwungen werden, die Loyalitätserklärung für eine Seite zu unterschreiben. Aber es ist nicht einfach, eine Identität, die in der Differenz gründet, greifbar zu machen.

Damit sind wir wieder bei den Fragen zu europäischen Identitäten. Fällt Ihnen etwas ein, das im momentanen europäischen Integrations- oder Zerfallsprozess droht unterzugehen?

Die Einzigartigkeit ist eine bedrohte Spezies, was auch immer das sein mag: Einzigartigkeit. Ihr Gegner ist nicht die Vielfalt, sondern die Vervielfältigung. Heute leben wir in Bilderwelten, die alles kontaminieren. Wie kommt man als Autor da noch an Einzigartigkeit? Der Regisseur Werner Herzog, dieses Pracht-Alphatier der deutschen Kultur, hat gesagt, dass die Welt gerade verschwindet, weil wir immer schon ein Bild für sie haben. Noch die hinterste Ecke ist inzwischen ausgeleuchtet und als Bild tausendmal um die Welt geschickt worden. Das ist nicht nur für die Literatur eine andere Form der Herausforderung, eine andere Art von Verlust.

Vielleicht verlangt die Welt nur eine gesteigerte Form der Aufmerksamkeit, weil die Bilder eben nicht der Realität entsprechen? Kennt man Bilder von Georgien, weiß man noch lange nicht, wie es ist, dort zu sein, zu riechen, die Geräusche zu hören und die Stimmung zu spüren. ... In „Der letzte Grieche“ heißt es, wer Verluste verstehen wolle, müsse die Zeit kanalisieren. Ein Plädoyer für die vierte Dimension, die an diesem Ort fast sichtbar wird: Schaut man von den roten Ziegelbauten der alten Charité-Gebäude zur Spree, blickt man auf den halbfertigen Hauptbahnhof, ein Ensemble von Baukränen und Zementsilos. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treffen sich quasi und bilden einen eigenen Raum. Was bedeutet diese Vorstellung einer Raumzeit, einer vierten Dimension für Sie?

Ein deutscher Autor, einer dieser Großen, die sich in alles einmischen wollen (Günter Grass, IW), hat einst einen, zugegeben, tollen Begriff geprägt: „Vergegenkunft“. Darin machen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gemeinsame Sache. Man könnte sagen, das ist die 4. Dimension der Literatur. Diese Fähigkeit der Literatur, die zeitlichen Dimensionen, die wir brauchen, um unser Leben zu organisieren, durcheinander zu bringen, fasziniert mich bis heute.

In dieser Dimension kann Verlust aufgehoben werden?

Aber nur indem an die Verlusterfahrung erinnert wird. Hier wird das Erinnern nicht kalt gestellt oder verleugnet. Komischerweise vergisst du dich selber oder zerfließt zumindest ein wenig, aber kommst dir zugleich näher.

Interview: Insa Wilke