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„Wir sind alle aus der Kindheit vertrieben“
„Den Menschen prägen auch die Dinge, die er verloren hat.“
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„Wir sind alle aus der Kindheit vertrieben“

Mit Antonio Muñoz Molina auf den Spuren „Verlorener Welten“ in Madrid

Das Café Comercial ist eines der beiden letzten alten, traditionellen Cafés in Madrid. Es wurde 1887 gegründet und ist zu einem Treffpunkt für Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle geworden. Der spanische Schriftsteller Antonio Muñoz Molina hat dieses historische Café mit seinen großen Fenstern und den alten Möbeln für unser erstes Gespräch über „Verlorene Welten“ gewählt. Einen wichtigen Handlungsort seines letzten Romans „Die Nacht der Erinnerungen“ haben Frank und ich auf eigene Faust am Tag zuvor besucht: die „Ciudad Universitaria“, die Universitätsstadt. Als wir erwähnen, dass wir dort auch die Philosophische Fakultät besucht haben und durch ziemlich verschmutzte Fenster in deren Bibliothek spähten, beginnt Antonio Muñoz Molina sofort zu erzählen:

In der historischen Bibliothek der Philosophischen Fakultät finden Sie immer noch Kugeln in den Büchern. Sie wurden benutzt, um einen Schutzwall zu bauen. Unglaublich, oder?

War die Philosophische Fakultät wirklich einer der Orte, an dem die Menschen während des Bürgerkriegs erschossen wurden, wie Sie es in „Die Nacht der Erinnerungen“ beschreiben?

Es stimmt. Die Universitätsstadt liegt am Rand der Stadt. Es war sehr leicht jemanden ungesehen dorthin zu bringen. Sie schnappten die Menschen damals in ihren Wohnungen und brachten sie dorthin – wie es meiner Hauptfigur Ignazio Abel passiert. Das Gelände war verlassen und mitten in der Nacht war es dunkel. Aber die Leute wurden nicht an der Bibliothek direkt erschossen. Sie wurden auf dem Gelände bei den halbfertigen Anlagen unter freiem Himmel ermordet. Die Kugeln kamen erst später in die Bücher, als die Universitätsstadt ein Kampfplatz wurde, ein Teil der Front.

Ignazio Abel, ihre Hauptfigur in „Die Nacht der Erinnerungen“, ist in Ihrem Roman der Architekt der Universitätsstadt. Wegen des Bürgerkriegs kann er seine Arbeit nicht beenden. Tatsächlich wurde sie erst unter Franco fertig. Ich habe mich gewundert, dass er dieses sozialistische Prestige-Projekt fertig bauen ließ. Wie kam das?

Als die Republik 1931 gegründet wurde, befand sich die Universitätsstadt schon in Bau. Sie war die Idee des Königs, von Alfons III., und also wesentlich älter als die Republik.

„Orte“ scheinen für Ihre Arbeit als Schriftsteller sehr wichtig zu sein. Sie sind mehr als Kulissen für Sie, oder?

Absolut. Meine Vorstellungskraft arbeitet so, dass sie in einem poetischen Sinne Räume entwirft. Ein Architekt arbeitet ähnlich. Räume, Gebäude, aber auch Innenräume wie dieses Café hier haben eine eigene Poesie. Sie bilden nicht nur den Hintergrund, sind nicht nur Orte, an denen man sich trifft. Sie verfügen über eine eigene Bedeutung. Schauen Sie, wie das Sommerlicht in diesen Raum fällt. In manchen Räumen spürt man, dass etwas in ihnen geschehen ist. Orte sind voll vergessener Erinnerungen.

Sie haben Kunstgeschichte studiert. Haben Sie damals an der Universität diese Sensibilität für Räume und Räumlichkeit entwickelt?

Es geht um etwas Grundlegenderes. Es gibt eine instinktive Art, auf Räume zu antworten. Und es gibt Menschen, die sofort auf einen Raum reagieren, während andere es nicht tun. Ich bin unfähig, nicht auf einen Raum zu reagieren, sei es ein Innenraum, eine Straße oder eine Stadt. Vor einigen Jahren war ich in Deutschland auf Lesereise. Am interessantesten war es, ins Hotel zu kommen, mein Gepäck abzuladen und sofort in die Stadt hinauszugehen, ohne irgendetwas über sie zu wissen. Ich habe auf dieser Tour Fotos von jedem meiner Hotelzimmerfenster aus gemacht; es ist eine Sammlung der Ausblicke entstanden, die ich in meinen Hotels auf die verschiedenen Städte hatte. Und jedes Mal, wenn ich ein Hotel verließ, habe ich ein Foto von seiner Lobby gemacht. An Orten ist immer irgendein Geschehen vorstellbar.

Sie leben die Hälfte des Jahres in Madrid und die andere in New York. Jetzt erzählen Sie uns von deutschen Städten. Gibt es zwischen europäischen und amerikanischen Innen- und Außenräumen signifikante Unterschiede?

Amerikanische Räumlichkeiten in New York oder Buenos Aires, Cafés oder öffentliche Gebäude, vermitteln dieses Gefühl von Offenheit, von Leere. Es ist ein sehr machtvolles Gefühl. Ich habe es ähnlich in Hamburg gespürt, dem Abfahrtsort für viele Dampfer nach Amerika. Viele Immigranten sind von Hamburg aus nach New York gefahren. Einige architektonische Details zeigen deutlich, dass Hamburg eine Hafenstadt ist.

In „Die Nacht der Erinnerungen“ beschreiben Sie Madrid als eine Stadt, in der man sein Leben allein durch einen Umzug von einem ins andere Viertel verändern kann. Ich habe mir gestern Salamanca angeschaut, das Mittelklasse-Viertel, in das Abel nach seinem sozialen und beruflichen Aufstieg umzieht. Es wirkt, als hätte es dort nicht viele Veränderungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben. Sie haben uns aber von einem anderen Viertel erzählt, von „Lavapiès“, das für unser Thema der verlorenen Welten interessanter ist, richtig?

Lavapiès ist ein Arbeiter-Viertel. Dort ist meine Hauptfigur aufgewachsen. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie. Die Arbeiter wohnten damals alle im südlichen Teil von Madrid. Meine Figur hat sich sozial und geographisch in der Stadt bewegt. Wenn man sozial aufsteigen, heißt das auch, dass man vom Süden – Lavapiès – nach Norden – Salamanca – umzieht. Das muss damals sehr schwierig gewesen sein, weil die soziale Mobilität Anfang des 20. Jahrhunderts nicht so groß wie heute war. Das ist eines der Themen meines Romans. Sie haben aber recht: Salamanca hat sich nicht viel verändert seitdem, und zwar, weil es von Francos Luftwaffe verschont wurde.

Warum?

Die Mittel- und die Oberschicht wohnten hier. Sie haben nur die Arbeiterviertel bombardiert.

Ist es heute noch ein reiches Viertel?

Es kommt darauf an. Die alte Führungsschicht lebt dort: Leute, die Beziehungen zur Armee haben, die Mittelschicht. In Salamanca finden Sie die Straße mit den teuersten Geschäften in Madrid. Aber es kommt drauf an...

Die Architektur hat sich in Salamanca also nicht sehr verändert, aber die Bevölkerung schon zum Teil. Sie haben die Erinnerung an die Menschen, die früher dort lebten, an ihre „Lost World“ in Ihrem Roman bewahrt: die Intellektuellen, die Führungsschicht der Republik. Ich vermute, dass die Bewahrung von verlorenen Welten bzw. die Erinnerung an sie eines der wichtigsten Themen für den Schriftsteller Antonio Muñoz Molina ist.

Besonders die Menschen meiner sozialen Klasse und meiner Generation wurden in einer Welt geboren, die es nicht mehr gibt. Das heutige Spanien ist ein anderes Land als dasjenige, in dem ich geboren wurde. Diese Erfahrung machen zwar die meisten Menschen auf der Welt, weil sich die Dinge so rasch verändern. Aber im Falle Spaniens und im Falle meiner Generation hat sich der Wandel besonders schnell und besonders stark vollzogen. Wenn Sie dann auch noch aus der Arbeiterschicht kommen, spüren Sie die Veränderungen noch einmal deutlicher. Man muss bedenken, dass ich 1956 geboren wurde. Es war die finsterste Phase der Diktatur. Unser Land wurde rückwärtsgewandt regiert und war vollkommen abgeschottet vom Ausland.

Was bedeutet das für den Alltag?

In meiner Heimatprovinz, dem ländlichen Teil von Andalusien, lebte man noch wie im 19. Jahrhundert. Es gab keine Maschinen, um das Land zu bearbeiten. Wie man das Land damals bewirtschaftete und zum Beispiel die Heuernte einbrachte, erinnerte an ein niederländisches Gemälde. Mit Sicheln!

Wann änderte sich das?

Zwei Dinge passierten in den frühen 1960er Jahren: Der Diktator entschied, das geschlossene Wirtschaftssystem zu öffnen. Das heißt, es durfte ausländisches Kapital ins Land fließen, und sie erlaubten den Leuten, das Land zu verlassen, um Arbeit zu suchen. Zum ersten Mal kamen auch ausländische Arbeiter nach Spanien, um hier ihren Urlaub zu verbringen. Das Paradox meiner Generation ist, dass wir Erinnerungen haben, die älter zu sein scheinen als wir selbst. Ich erinnere mich an den ersten ausländischen Touristen den ich gesehen habe. Der erste Erwachsene in kurzen Hosen!

Wann und wo war das?

In meinem Heimatort. Ich komme aus einer kleinen Stadt im andalusischen Binnenland. Der Wandel setzte in Städten wie Madrid oder Barcelona ein und in den Küstenorten, wohin die Touristen als erstes fuhren. In Orten wie dem, aus dem ich komme, dauerte es länger. Fast zwei Millionen Spanier haben damals das Land verlassen, um im Ausland zu arbeiten. In Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden und Frankreich. Bauern wie mein Vater haben das Land en masse verlassen, um Geld zurückzuschicken. Dieses Geld war eine der Säulen für Spaniens Entwicklung. Dazu kam das Geld, das die Touristen im Land ließen. Es war überwältigend. Ich erinnere mich an den ersten Fernseher in der Nachbarschaft, an den ersten Backofen. Als ich klein war, kochte meine Mutter auf dem offenen Feuer: mit Holz! Die Ankunft des ersten Kühlschranks war ein Wunder. Die Leute haben ihre Kühlschränke nicht in die Küche, sondern ins Wohnzimmer gestellt, wo die Nachbarn sie bewundern konnten. (Frank erzählt, dass er aus seiner Kindheit in der DDR ähnliche Erlebnisse kennt.) Ich habe einen Roman über all das geschrieben.

„El viento de la luna“ – 2010 ist er auf deutsch unter dem Titel „Mondwind“ bei uns erschienen.

Ich erzähle da die Geschichte dieses Umbruchs. Wir dachten ja, dass die Welt, in der wir aufgewachsen waren, von Dauer sein würde. Aber sie verschwand quasi über Nacht, als ich vierzehn Jahre alt war. Mein Vater dachte, ich würde einmal wie er ein Bauer werden und dieselben einfachen Geräte benutzen. Das war die Zukunft, die er für mich sah. Als wir das erste Mal einen Pflug auf dem Feld einsetzten, war das eine Revolution.

Ihr junger Erzähler in „Mondwind“ scheint aber schon vor Beginn des technischen Fortschritts ein Fremder in der bäuerlichen Welt seiner Familie zu sein. Er hat sich schon vorher für die Welt jenseits der Vorstellungen seiner Eltern interessiert.

Kennen Sie diese Theorie? – Nur ungefähr die Hälfte der Angehörigen einer Spezies besitzt den richtigen Überlebensinstinkt, wenn es zu einem grundlegenden Wandel der Lebensbedingungen kommt. Das meint etwas, das ich persönlich erlebt habe. Ich wollte raus, ich wollte leben. Millionen von Menschen haben ähnliche Erfahrungen gemacht, vor allem in Ost-Europa, aber auch an vielen anderen Orten auf der Welt. Mein ältestes Kind ist inzwischen 30 Jahre alt. Die anderen drei sind 28, 26 und 24 Jahre alt. Sie haben nur Demokratie erlebt und nur die Demokratie in der sogenannten „Ersten Welt“. Sie wurden in ein entwickeltes Land geboren, das schon Teil Europas war. Und sie leben immer noch in derselben Welt.

Ihr Roman ist nicht nur eine Geschichte über den Fortschritt und die Flucht eines Teenagers aus der Enge seiner Herkunftswelt. Es ist auch ein sehr melancholisches Buch, weil es vom Verlust der Kindheit, der Eltern, der Familie und dem Verlust von wichtigen Perioden des eigenen Lebens erzählt. Was genau ging durch den technischen Fortschritt in verloren?

An erster Stelle: die Kindheit. Sie ist für immer verloren. Wir sind alle aus der Kindheit vertrieben. Es ist trivial, aber wahr. Wenn man Kinder hat, merkt man, dass sie ungefähr bis zur Pubertät in einer Welt leben, die sich vollkommen von der Erwachsenen-Welt unterscheidet. Auf vielerlei Arten ist die Weise, wie Kinder die Welt sehen, so viel reicher. Diese Gabe verliert man als Erwachsener. Es gibt Leute, die behaupten, als Künstler müsse man über eine lebendige Verbindung zu seiner Kindheit verfügen. Ich glaube, das stimmt. (Zu Frank:) Sie sind Photograph, Sie müssen die Dinge auf eine neue, überraschende Weise anschauen. Die großen Photographen haben den gewöhnlichen Dingen Aufmerksamkeit geschenkt. Oder ein Maler: Er muss uns zeigen können, wie wunderschön die alltäglichen Dinge sind. Diese Fähigkeit führt in die Kindheit zurück. Ein Künstler zu sein – oder auch ein Wissenschaftler – bedeutet, über den Sinn für das Wunderbare zu verfügen.

Aber Ihr Roman handelt nicht nur vom Verlust der Kindheit...

In meinem Roman fällt das Ende der Kindheit mit dem Ende einer ganzen Welt zusammen. Das ist eine biographische Koinzidenz meiner Generation. Wir wurden mit unserem Land erwachsen. Meine erste Wahl war auch die erste Wahl, die nach Jahren der Diktatur in Spanien stattfand. In meiner Jugend gab es diese zufällige Übereinstimmung zwischen meiner persönlichen Entwicklung, derjenigen meiner Generation und dem Wandel des Landes.

Haben Sie diese Wandlungen bewusst erlebt und diese Übereinstimmung?

Der Unterschied zwischen einem Roman und der Erinnerung ist, dass man die Dinge festschreibt, um sie deutlicher hervortreten zu lassen. Natürlich war ich mir dieses Wandels als Teenager nicht bewusst. Ich habe nur reagiert. Ich wusste nur, dass ich nicht wie meine Eltern leben wollte, und ich liebte ganz andere Dinge als meine Eltern. Aber das passiert jedem Kind. Wir aber standen damals an einem historischen Scheideweg. War ich mir dessen bewusst? Ich wusste, dass ich begann, Musik zu schätzen, die sich von den Vorlieben älterer Leute unterschied. Ich hörte plötzlich amerikanische Pop-Musik im Radio. Die Erwachsenen wurden sauer – und ich war hingerissen!

Ist das eine Bedingung fürs Schreiben: Die Koinzidenz zwischen biographischer und historischer Entwicklung?

Viele Romane spielen an diesem Schnittpunkt von persönlicher Geschichte und öffentlichen Ereignissen. Das gibt beidem erst die Bedeutung. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus der deutschen Literatur: Sie erinnern sich an den „Zauberberg“. Als Castorps Leben seine Bestimmung findet, nämlich als er nach symbolischen sieben Jahren das Sanatorium in den Bergen verlässt und in die Ebenen zurückkehrt, schreiben wir das Jahr 1914. Das biographische und das historische Ereignis treffen zusammen, an diesem Punkt spielt Thomas Manns Roman. Das passiert häufig in der Literatur.

Ihr Buch “Córdoba de los omeyas” (1991, deutscher Titel: “Stadt der Kalifen”) zeigt Spanien als ein Land, das in seiner Geschichte mehrmals “verschwand”. Es gab immense politische und kulturelle Umbrüche. Was heißt es für ein Land, die Erfahrung einer so starken Diskontinuität zu machen?

Das passiert doch überall. Es gibt Kontinuitäten und Brüche. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist auch ein Beispiel dafür oder nicht? Vielleicht neigen die Menschen dazu, die spanische Geschichte misszuverstehen. Sie ist Teil der europäischen Geschichte und wenn Sie diese Perspektive einnehmen, ist sie nicht außergewöhnlich. Das einzige singuläre Ereignis war die Anwesenheit der Muslime in Spanien. Aber auch die gehört eben zur europäischen Geschichte. Denken Sie, in Spanien kam es zum Bürgerkrieg, weil wir gern kämpfen oder weil wir heißblütig sind und all dieser Mist, den man immer wieder hört? Wir hatten diesen Bürgerkrieg, weil ein militärischer Putsch fehlschlug. Mussolini mischte sich ein. Hitler entschied, Franco zu helfen. Wir hatten diesen dreijährigen Krieg nicht, weil wir Krieg lieben und weil wir den Stierkampf haben. Man kann die Dinge in geschichtswissenschaftlichen Begriffen erklären. Irgendwelche Philosophien braucht man dazu nicht.

Damit sind wir mitten in einer aktuellen Diskussion um Europas Geschichte und Gegenwart angekommen. Die Frage, mit der man sich derzeit beschäftigt ist, ob man die europäische Geschichte als eine große zusammenhängende Geschichte verstehen soll oder sie besser nach Nationalstaaten getrennt konstruieren sollte. Der Philosoph Giorgio Agamben hat vorgeschlagen, Europa in kulturell und wirtschaftlich definierte Zonen aufzuteilen. Was halten Sie davon?

Das ist ein sehr guter Weg, gar nichts zu verstehen. Ich bin Opern-Fan. Ich habe einen Artikel über die Verbindung zwischen Bayreuth und dem Spanischen Bürgerkrieg geschrieben, als „Siegfried“ hier in Madrid aufgeführt wurde. Im Sommer 1936 versuchte die Armee, die Republik zu stürzen. Es war aber so, dass ihre schlagkräftigsten Truppen in Nord-Marokko festsaßen, damals eine spanische Kolonie. Sie mussten die Straße von Gibraltar überqueren, um das Mutterland zu erreichen. Sie waren Faschisten, sie waren effektiv, aber sie waren in Nord-Afrika gestrandet, weil die Marine der Republik gegenüber loyal war. Nun gab es zwei spanische Geschäftsmänner, die den Rebellen verbunden waren. Sie meinten, Franco brauche internationale Hilfe. Wer konnte damals Flugzeuge stellen, um die Truppen nach Spanien zu fliegen? – Die Deutsche Luftwaffe. Also fuhren sie nach Berlin und baten um deutsche Unterstützung. Sie sprachen bei Ribbentrop vor, aber der wollte nichts tun, was die Franzosen und die Engländer verärgern könnte. Er schickte sie weg.

Aber am Ende haben die Deutschen Franco unterstützt...

Das alles war eine Frage von Stunden! Die beiden Männer setzten alles auf eine Karte und entschieden, Hitler selbst nach den Flugzeugen zu fragen. Es war Sommeranfang: Hitler war in Bayreuth. Das ist historisch belegt! Normalerweise kam er nach Bayreuth, um „Siegfried“ zu sehen. Unsere beiden Männer mussten also lange warten – „Siegfried“ dauert lang. Sie warteten und warteten. Endlich kam Hitler raus und sie bekamen ihre Chance. Er war nach der Aufführung in einer heroischen Stimmung. Sie baten ihn um Flugzeuge, um die erste Luftbrücke der Geschichte zu organisieren und Hitler entschied höchstpersönlich, die spanischen Soldaten über das Mittelmeer zu transportieren. – Sie sehen, wie die Dinge miteinander verschränkt sind. Es war eine Frage von Tagen, von Stunden. Ohne die deutschen Flugzeuge und ohne Mussolinis Waffen wäre die Rebellion niedergeschlagen worden und Spanien hätte keinen Bürgerkrieg gehabt.

Was also würden Sie Agamben antworten?

Die europäischen Kulturen sind so eng miteinander verbunden. Ein anderes Beispiel: Warum gab es so viel billiges Geld für Spanische Banken als es zur Immobilienkrise kam? Dieses Geld wurde in Deutschland gedruckt, um die Wiedervereinigung zu bezahlen. Deutschland brauchte damals eine Menge Geld. Alles war schon immer so eng miteinander verbunden!

In Ihrem Essay für dieses Projekt erinnern Sie daran, dass Europa ein künstliches Konstrukt ist, das nach dem Zweiten Weltkrieg erfunden wurde. Sie heißen gerade das rationale Gründungsmotiv der Europäischen Union gut. Aber denken Sie, dass es auch eine neue Emotionalität, dass es die „eine“ europäische Geschichte braucht, um die Stabilität Europas zu gewährleisten?

Erinnern Sie sich an den Beginn der industriellen Revolution in England im 16. Jahrhundert: Wissen Sie, woher die Wolle für die englische Textilproduktion kam? Von spanischen Schiffen: Merino – klingelt da was? Es ist ein spanischer Name: Merino-Wolle. Diese Wolle wurde von spanischen Schiffen im 14. und 15. Jahrhundert nach England und in die Niederlande exportiert. Es gibt immer eine Verbindung.

Letztes Jahr haben Sie einen Artikel über die Beziehung zwischen Europa und Spanien geschrieben und haben uns in Erinnerung gerufen, dass ein wesentlicher Teil des europäischen Gedankens die Solidarität miteinander war. Ist dieser Gedanke verloren?

Die Katastrophe vermeiden... Ein englischer Historiker hat ein Buch geschrieben, „The Savage Continent“. Er erzählt davon, was in Europa unmittelbar nach der Befreiung passiert ist. In Polen oder Griechenland passiert: lauter Bürgerkriege. Furchtbare Dinge geschahen in Italien und Millionen von Waisen irrten über den Kontinent. Der Wiederaufbau war so schwierig! Wenn man jetzt sieht, wie heutzutage auf das, was damals aufgebaut wurde, herabgesehen wird, gefriert mir das Blut in den Adern. Wir kommen aus der Katastrophe. Stellen Sie sich das vor! Erinnern Sie sich an Ihre Großeltern, und wie sie das Land wieder aufbauten. Es war so unglaublich schwierig. Den letzten Sommer habe ich in Amsterdam verbracht. Einer meiner niederländischen Übersetzer ist der Enkel eines Mitglieds der niederländischen SS auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Familie stammt er von Juden ab, die deportiert wurden. Das ist die europäische Geschichte. Sein Vater musste nach dem Krieg die Niederlande Richtung England verlassen, weil er der Sohn eines wichtigen SS-Mannes war. Er zog nach England und traf dort die Tochter eines Mannes, der im KZ ermordet worden war. Das ist das Leben. Man muss sich aussöhnen. Man muss lernen, weiterzumachen. Dies ist nicht das Paradies. Man muss entscheiden, ob man die Fehler der Vergangenheit wiederholen will oder nicht. Ich glaube übrigens, dass dies auch eine verlorene Welt ist. Es ist wichtig, sich zu erinnern. In Spanien gibt es viele Familien, die gespalten sind, weil die meisten Menschen gar nicht selbst entscheiden, auf welcher Seite sie stehen. Die meisten tragen einfach die Uniform der Armee, die sie rekrutiert hat. Es ist doch das gleiche mit der DDR. Jemand kommt, zieht eine Mauer hoch und du bist auf der einen oder der anderen Seite.

Wenn die Welt, in der man sich erinnern kann, verloren ist – ist die Literatur ein möglicher Weg, sie doch zu bewahren?

Vielleicht... Jorge Semprun hat einmal gesagt, dass die Zeitzeugen aussterben. Das ist also der Job der nächsten Generationen: Die Erinnerung an das, was geschehen ist, muss von denen bewahrt werden, die diese Zeit nicht erlebt haben.

Eine deutsche Journalistin hat über Ihren Roman „Die Nacht der Erinnerungen“ geschrieben, dass es wirkt, als sei Ihre Hauptfigur von der Gegenwart in die Vergangenheit „gebeamt“ worden.

Man schreibt immer über die Zeit, in der man lebt. Mein Roman ist in dem Sinn ein Buch über unsere Zeit, als dass er sich um politische und praktische Entscheidungen dreht, die unsere Gegenwart betreffen. Man kann diese enge Gegenwart nicht verstehen, ohne den Focus zu erweitern. Sonst ist sie bedeutungslos.

Aber es ist auch ein Buch über die Zukunft. In einer anderen Rezension heißt es, dass „Die Nacht der Erinnerungen“ eine Elegie auf die Zukunft ist, die hätte sein können in den 1930er Jahren. Aber dann kamen der Zweite Weltkrieg und der Bürgerkrieg.

Das ist clever. Das ist der Grund, aus dem ich Ihnen die „Residencia des Estudiantes“ zeigen will, wenn wir hier mit unserem Kaffee fertig sind. Ich bin nicht nostalgisch. Nostalgie ist immer eine Lüge. Aber ich denke, dass man eine sehr begründete Nostalgie für die Dinge haben kann, die hätten anders enden können.

Was genau ist da der Unterschied?

Die Geschichte ist nicht unbeeinflussbar. Das ist das Herz meines literarischen Bewusstseins und meiner politischen Weltsicht. Wir neigen zu dem Glauben, dass passieren musste, was passiert ist. Der Zweite Weltkrieg war nicht abzuwenden – dieser Gedanke geht auf Marx, Hegel und das Christentum zurück. Wir denken, die Evolution hat eine gerade Linie vom ersten Bakterium bis zu uns gezogen. Das stimmt nicht. Geschichte hat keine Entwicklung und keine Richtung. Geschichte war immer kurz davor, nicht zu geschehen oder auf andere Weise. Es gibt ein großartiges Buch mit dem Titel „Hitler’s Thirty Days to Power“. Es handelt vom Januar 1933, eine sehr detaillierte Rekonstruktion, fast Stunde für Stunde, der Geschehnisse in Deutschland damals. Man kann erkennen, dass die Dinge fast immer fast nicht zustande gekommen wäre. Es gab keine Notwendigkeit für Hitlers Herrschaft. Am Anfang des Buchs ist das Editorial einer historischen deutschen Tageszeitung abgedruckt. Eines dieser Grußworte, die am Neujahrstag ihre Prophezeiungen für das kommende Jahr machen. Dort heißt es in etwa: Endlich verebbte die nationalsozialistische Gefahr. – Es gibt kein Schicksal. Es gibt keine Seelen. Das ist romantischer Quatsch aus dem frühen 19. Jahrhundert.

Ich habe einmal einen Jazz-Musiker getroffen und mich mit ihm über die Musik der 1920er und -30er Jahre unterhalten. Er war tieftraurig, weil die Zukunft dieser Musik in seinen Augen nie wiederkehren wird und für immer durch den Nationalsozialismus zerstört wurde. Welche Vision von Spanien wurde durch den Bürgerkrieg nie verwirklicht?

Die europäische Kultur war zerstört. Nicht vollständig, weil viele dieser erstaunlichen Europäer nach Amerika geflohen waren und dort diese unglaubliche amerikanische Kultur hervorbrachten. Die amerikanischen Filme der 1940er Jahre sind ja alle von deutschen und österreichischen Exilanten gedreht worden. Wir müssen uns daran erinnern: Manches ist für immer verloren. Dem müssen wir ins Gesicht sehen. Viele wunderschöne Dinge wurden von der Erdoberfläche gelöscht. Da es keine Möglichkeit gibt, die Zeit zurückzudrehen, sollten wir feiern, was geblieben ist. Wir sollten clever genug sein, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, um am Ende nicht die wertvollen Dinge zu verlieren, die wir jetzt haben. Es ist wie mit der Weimarer Republik: Niemand liebte sie – bis Hitler kam. Ähnlich war es mit der Spanischen Republik. Ohnehin gibt es übrigens deutliche Verbindungen zur Weimarer Republik. Die Verfassung unserer Zweiten Republik basierte wesentlich auf der Weimarer Verfassung. Auch das Wahlsystem wurde kopiert. Und: Die Linke hielt die Republik für bürgerlich. Man muss nur etwas verlieren, um es zu vermissen.

Wir haben also drei verschiedene Formen „Verlorener Welten“: Die eine ist verloren, aber wir besitzen noch Erinnerungsstücke. Die zweite existiert wirklich nicht mehr, nichts erinnert an sie, keine einzige Spur. Und die dritte wurde verloren, bevor sie überhaupt war.

Wir müssen lernen, nicht destruktiv zu sein. All diese Gedanken machen nur Sinn, wenn wir lernen, anders zu handeln. Sonst sind wir nur Nostalgiker und leer. Das ist allerdings verführerisch. Was Sie von diesem Jazz-Musiker erzählten: Es gab so viele wunderschöne Dinge. Ok, es gibt sie nicht mehr. Und nun? Sollen wir unser ganzes Leben damit verbringen, alten Aufnahmen hinterher zu lauschen oder sollten wir lernen, wie wir uns jetzt, für unsere Gegenwart inspirieren könnten? Wir müssen pragmatisch sein oder wir werden die Gegenwart verfehlen.

Aber die Vorstellung einer verlorenen Welt ist ja tief in unserer Kultur verankert: Es ist das verlorene Paradies.

Sie ist Teil unserer mentalen Ausstattung und gründet vielleicht in etwas Realem. Als sich die Landwirtschaft entwickelte, war die Welt der Jäger und Sammler verloren. Für diejenigen, die diesen Wandel erlebten, bedeutete das ein Verlustgefühl. Dieses Verlustgefühl ist also fast Teil unseres genetischen Codes. – Wir haben die Idee des Fortschritts von Marx und Engels: Erst Barbaren, dann Jäger und Sammler, dann sesshafte Bauern und schließlich der Sieg der Arbeiterklasse – okay. Es ist ein geradliniges Schritt-für-Schritt-Modell. Landwirtschaft schien eine Fortentwicklung zu sein, aber heute weiß man, dass sie auch eine Anpassung an den Klima-Wandel war. Es war nicht eine Stufe in Richtung Humanität, sondern Anpassung. Als Archäologen die Maße des ersten Menschen aus dieser Phase der frühen Sesshaftwerdung nahmen, stellten sie fest, dass er kleiner und weniger gesund war, als die Skelette der Jäger und Sammler.

Es war nicht nur ein Fortschritt...

Man konnte mehr Menschen ernähren, aber es gab auch Verluste. Man gewinnt und verliert immer gleichzeitig. Aber es ist sehr schwierig für uns, ohne die Vorstellung von Fortschritt zu denken. Möchten Sie jetzt die „Residencia des Estudaiantes“ besuchen? Das ist der Ort, an dem mein letzter Roman beginnt und es ist eine meiner „Verlorenen Welten“ in Madrid. Für mich ist es immer ergreifend dort zu sein.

(Wir nehmen ein Taxi und erreichen nach zehn Minuten einen sehr stillen friedvollen Ort auf einer Anhöhe. Wir betreten ein Ensemble von Backstein-Gebäuden, in denen man sofort wohnen möchte. Antonio Muñoz Molina spricht von einem Zentrum des Wissens.)

Dieser Ort wurde von Visionären erfunden, vor allem von einem: Santiago Ramón y Cajal. Unter Neurowissenschaftlern ist er sehr bekannt. 1906 hat er den Nobel-Preis gewonnen, weil er als einer der Ersten herausgefunden hat, wie die Gehirnzellen arbeiten. Er war ein Pionier und ist immer noch wichtig. Seine Geschichte ist unglaublich, weil er in einem kleinen, ländlichen Ort geboren wurde. Er war zwar der Sohn des Arztes dort, aber trotzdem finde ich beeindruckend, wie er es geschafft hat, die höchste Ebene der Wissenschaften zu erreichen, obwohl er aus so einem rückwärtsgewandten Land kam. Aus eigener Kraft ging er an die Universität und ins Ausland. Sein Nobel-Preis war der erste für Spanien überhaupt.

Was hat er mit diesem Ort zu tun?

Er hatte genaue Vorstellungen davon, was ein Land für seine Entwicklung benötigt. Im selben Jahr, als er den Nobel-Preis gewann, trieb er die Gründung einer Organisation voran, die „Junta para Amplicacíon de Estudios” hieß und sich zur Aufgabe machte, Wissen zu verbreiten. Die Idee war, die besten Leute ins Ausland zu schicken, um ihnen eine bessere wissenschaftliche Ausbildung zu verschaffen. Es war eine enorme Leistung, dass diese Studenten nun durch ein Stipendiensystem nach Deutschland, Frankreich oder England gehen konnten. Santiago Ramón y Cajal und die Leute um ihn herum wussten, dass Spanien technologische, wissenschaftliche und historische Kenntnisse brauchte. Der Weg, Spanien zu entwickeln hieß, die Aufmerksamkeit auf das Wissen zu lenken.

Und er und seine Kollegen gründeten diesen Ort hier?

Die „Residencia des Estudiantes“, ja. (Zeigt auf eine Statue gegenüber des Hauptgebäudes inmitten eines idyllisch blühenden Gartens.) Dies war der Mann, Cajal. Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie alle hier: der Dichter García Lorca, der Filmemacher Luis Buñuel. Sie lebten hier wie Studenten in einem College, und zugleich war dies hier ein intellektuelles Zentrum. Aus aller Welt kamen die prominentesten Persönlichkeiten her, um Vorträge zu halten. Wussten Sie, dass Einstein, ich glaube 1921, hier war? (Zeigt auf Gebäude, die die Sicht auf Madrid versperren:) Sie müssen sich vorstellen, dass dies alles damals nicht hier war. Man konnte den ganzen Norden von Madrid überblicken. Dieser Ort ist das Herz der bestmöglichen Vision unseres Landes.

Diese Architektur ist tatsächlich besonders: Sie zeigt, dass man hier nicht nur arbeiten, sondern auch leben soll. Man findet diese Verbindung zwischen Wissenschaft und Leben nicht so häufig, zumindest nicht so sichtbar, so programmatisch.

Die Architektur ist vom Bauhaus inspiriert. Meine Hauptfigur, Ignazio Abel, repräsentiert die neue Minderheit, die das Land öffnen wollte. Es war eine unglaubliche Idee, die Menschen anzuregen, ihre Bildung und ihr soziales Engagement für das Land auszuweiten. Alles wurde durch den Krieg zerstört. Sie wurden umgebracht oder gingen ins Exil. – Die Menschen sollten hier zusammenkommen. Professoren, Studenten. Madame Curie hielt Vorlesungen hier. Und als Einstein die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wurde, bot ihm die Spanische Republik die spanische Staatsbürgerschaft an und einen Lehrstuhl an der Universität. Das wissen die Leute oft nicht.

Er ging aber sofort in die USA.

Er war schlau genug, ganz Europa zu misstrauen. Aber er zog das Angebot der Spanischen Regierung in Erwägung. (Wir betreten das Hauptgebäude und den Vortragsraum, in dem der Flügel steht, an dem die Liebesgeschichte zwischen den beiden Hauptfiguren in „Die Nacht der Erinnerungen“ beginnt.) Dies ist der Flügel, an dem García Lorca gespielt hat. Vorträge wurden in diesem Raum gehalten, es gab Konzerte hier. Sie müssen sich vorstellen, dass Madame Curie oder Stefan Zweig, all diese großen europäischen Intellektuellen, hier waren. Es gab damals wirklich eine kosmopolitische Kultur. Stefan Zweig ist übrigens im Moment ein Bestseller in Spanien. Seine Autobiographie „Die Welt von Gestern“ ist ein großer Erfolg.

Können Sie sich das erklären?

Die Menschen brauchen die Erinnerung an diese kosmopolitische Periode. Wir sind heute so gefangen in unseren politischen Identitäten. Dieser Mann war ein wirklicher Europäer. In den meisten Kulturen gibt es dieses Bedürfnis nach einer Verbindung zur Vergangenheit. – Meine erste Lesung hatte ich übrigens in diesem Raum, neben diesem Klavier. (Wir verlassen das Gebäude und spazieren über das Gelände.)

Warum symbolisiert dieser Ort für Sie eine „Verlorene Welt“?

Die „Residencia des Estudiantes“ wurde bis 1936 betrieben. Noch zu Beginn des Krieges kamen ausländische Studenten her, um hier ihren Sommer zu verbringen. Deswegen ist die junge Amerikanerin in meinem Roman überhaupt in Madrid. Dies war ein Ort für Ausländer, um mit dem Land in Berührung zu kommen, und für Spanier, um Ausländer zu treffen. Es ging immer um die Öffnung des Landes. Künstler und Wissenschaftler trafen hier zusammen! Hier war ein bedeutendes Labor. Die Leute neigen dazu, die Tatsache zu übersehen, dass die kulturelle Entwicklung ins Spanien Anfang des 20. Jahrhunderts auch eine wissenschaftliche Dimension hatte. Und zwar wegen dieses einen Mannes, wegen Cajal. Dies war der Ort, an dem die Zukunft stattfand.

Es war wohl auch der Ort, an dem die Menschen daran erinnert wurden, dass sie für einen bessere Zukunft und ihr Land und ihre Landsleute arbeiten sollten, oder?

Tja, und was passierte dann? Bei Kriegsbeginn mussten die ausländischen Studenten das Land verlassen und diese Gebäude wurden Baracken für die Soldaten.

Für Soldaten der Republik?

Ja. Wenn Ihnen Bilder dieses Gartens aus den 1920er Jahren unter die Augen kommen, können Sie die ersten Sportanlangen in Spanien sehen. Das moderne Bildungsprogramm sah damals auch körperliche Ertüchtigung vor. Man wollte gesunde Studenten haben. Aber in diesen Gärten begann auch der Bürgerkrieg. Hier wurden Menschen ermordet. – Wissen Sie, die Erinnerung der gewöhnlichen Menschen ist verloren. Stellen Sie sich vor, wie die Leute hier vor dem Krieg lebten: Diese Welt verloren sie. Wir, eine Generation später, können wieder eine Verbindung herstellen. Aber für die Stipendiaten damals hier, denen nicht möglich war, ihre Studien fortzusetzen, weil es ihnen verboten wurde, war das nicht möglich. Der Punkt ist: Das menschliche Leben ist so kurz und fragil. Auf lange Sicht werden die Dinge bewahrt. Aber für die realen Menschen ist die Spanne ihres Lebens zu kurz, um das zu erleben. Luis Buñuel lebte lange genug, um nach Spanien zurückzukehren. García Lorca hingegen verließ Madrid vor Kriegsausbruch in Richtung Granada. Dort wollte er seine Familie treffen, weil er ahnte, dass etwas Furchtbares passieren würde und er in Granada sicherer wäre. Er verließ Madrid und kam nie zurück. Einen Monat später wurde er ermordet. Denken Sie an die wunderbaren Sportplätze – voller Leichen. So war das.

Was passierte nach dem Krieg?

Man richtete ein Krankenhaus ein. Nach dem Krieg gab es hier keine wissenschaftlichen Aktivitäten mehr. Dann wurde das Gelände an „Opus Die“ gegeben, diese religiöse Organisation. Das Theater hier wurde in eine Kapelle verwandelt. Viel später, als schon wieder Demokratie herrschte, rief man den früheren Ort wieder ins Leben. Nun ist hier wieder ein Wissens-Zentrum, das vom Staat finanziert wird. Und es gibt ein wichtiges Archiv mit Dokumenten aus der Phase des Wiederaufbaus.

Es ist etwas Besonderes, einem wissenschaftlichen und kulturellen Ort eine so prominente Position in der Stadt zu geben. In anderen Ländern würde hier das Innenministerium oder der Sitz des Geheimdienstes über die Dächer von Madrid schauen.

...Es ist so ein bewegender Ort. Der Unterschied zu früher ist, dass er nun von der Stadt isoliert ist.

Durch die neuen Gebäude, die die Sicht auf die Stadt versperren. Das ist ein symbolisch vielsagender Unterschied. – Die Orte, die Sie für unseren Besuch als „verlorene Orte“ ausgesucht haben, sind alle auf die eine oder andere Weise auch öffentliche Räume.

In den USA gibt es solche öffentlichen Räume gar nicht mehr: Man geht von seinem Privathaus zu seinem privaten Auto und fährt zu einer ganz privaten Shopping Mall. Es gibt keine Orte mehr, an denen die Menschen miteinander interagieren können. (Wir treffen eine Kollegin von Antonio Muñoz Molina. Sie erklärt uns, dass man im Moment große Forschungsprojekte einstellt, weil aufgrund der Rezession die Gelder fehlen. Als die Kollegin gegangen ist, zeigt Molina auf einen repräsentativen Bau.) Schauen Sie, da gibt es ein bemerkenswertes Detail in der Architektur. Sehen Sie diese Säulen? Sie sind von der muslimischen Architektur inspiriert. Das ist der symbolische Versuch, die wissenschaftliche Entwicklung des Landes mit dem wissenschaftlichen Erbe der Muslime aus der Zeit des Mittelalters zu verbinden. Die Konservativen in der Politik versuchen immer, die katholischen Traditionen zu betonen. Wir Liberalen versuchen hingegen, anzuerkennen, dass unsere Kultur nicht nur katholische geprägt ist, sondern dass wir pluralistische Traditionen haben.

Das ist dann wohl einer der ganz wenigen Orte in Europa, an dem das muslimische Erbe der europäischen Kulturen gewürdigt wird.

Die Griechen wurden nicht direkt aus dem Lateinischen übersetzt, sondern erst aus dem Arabischen. Griechisch war im Mittelalter verloren. Aristoteles wurde hier in Spanien zuerst aus dem Arabischen übersetzt und dann vom Arabischen ins Lateinische, dann ins Französische und Deutsche. Thomas von Aquin hat arabische Übersetzungen gelesen! Der Kern der europäischen Kultur wurde durch den Umweg über das Arabisch der Muslime in Spanien bewahrt.

Noch eine verlorene Welt: Die Erinnerung an die immense Bedeutung der muslimischen Kultur für uns und die engen Verbindungen zwischen Europa und den arabischen Kulturen.

Wir reden hier nicht über dieses Multi-Kulti-Ding. Wir reden über reale, historische und dokumentierte Verbindungen. Das Archiv aus dieser Epoche wird hier an diesem Ort bewahrt. Viele Studenten kommen hierher, um zu diesen Phasen zu forschen. Es ist immer friedlich hier, ein ruhiger Ort. Früher, als es im Umland nichts weiter gab, muss man hier wie auf einer Insel am Rand der Stadt gelebt haben.

Eine Insel, die aber visuell und gedanklich eng mit der Welt verbunden war.

Die Leute, die auf diese Insel reisten, hatten einen starken Sinn für ihr Land. Die Pflanzen, die Sie hier in diesem Garten sehen, stammen aus der Sierra, aus den Bergen 40 Meilen vor Madrid. Man hat hier keinen künstlichen französischen Garten angelegt, sondern einen Garten mit den wirklichen Pflanzen dieses Landes.

War dieses soziale Bewusstsein für Sie wichtig, als Sie anfingen zu schreiben?

Schreiben bedeutete Atmen für mich. In meinen Anfängen war ich glücklich wie ein Affe, wenn ich den Autor imitieren konnte, dem ich gerade verfallen war. Als ich an der Universität war, wurde alles Geschriebene ideologisch so aufgeladen, dass ich für Jahre nicht mehr schrieb. Ich habe den Vorteil, dass ich intellektuell sehr faul bin. All dieser marxistische Kram: Er hat mich so gelangweilt, dass ich dem keine Aufmerksamkeit schenken konnte. – Aber ich will Ihnen jetzt noch eine weitere „Verlorene Welt“ zeigen. Lassen Sie uns gehen.

(Wir steigen wieder in ein Taxi und fahren nach Lavapiès. Wir halten an einem Platz, auf dem ein Denkmal für zwei Anwälte steht, die umgebracht wurden, weil sie die Rechte der Arbeiter verteidigt haben. Von dem Platz führt eine Gasse zu unserem Ziel, dem Restaurant: „Ventorrillo Muricano“.)

Dies ist ein Restaurant mit regionaler Küche: Das Gemüse und die Reis-Gerichte hier sind sehr gut. Nicht so kommerzialisiert. Ich habe diesen speziellen Ort ausgesucht, weil er einer der wenigen ist, an dem man noch authentische spanische Gerichte bekommt. Die Region, aus der hier gekocht wird, ist meiner Heimat benachbart. (Wir beginnen mit einem kleinen Bier, gehen dann zu Wein über und essen zuerst Tomaten-Salat, ganz der Tradition gemäß.)

Warum symbolisiert diese Art zu kochen und zu essen eine „Verlorene Welt“ für Sie?

Die Tradition verschwindet. Der unterschied zwischen der französischen und der spanischen Küche ist: Wir kochen rustikaler und die Qualität der Zutaten ist sehr wichtig. Die französische Küche ist bürgerlich, die gibt es in Spanien nicht. Unsere Küche ist dem bäuerlichen Leben verbunden. Was Sie hier schmecken, habe ich auch als Kind geschmeckt, als meine Mutter auf dem Feuer gekocht hat. Die Tradition dieser Küche reicht Jahrhunderte zurück. Viele Leute meiner oder der jüngeren Generation kommen in dieses Viertel, weil sie die alten Restaurants und Bars hier mögen. In den 1980er und 1990er Jahren wollten die Menschen „modern“ sein. Sie wollten neue, „trendy“ Orte entdecken. Heute wissen sie wieder Orte wie diesen zu schätzen, meine Kinder auch. Die Sensibilität dafür hat sich verändert.

Was machen Ihre Kinder eigentlich?

Mein ältester Sohn ist Anwalt. Witzigerweise ist mein nächst jüngerer Sohn Graphikdesigner. Er hat für eine Reihe meiner Bücher die Buchumschläge entworfen. Der dritte hat sich darauf spezialisiert, die Untertitel für Filme zu schreiben. Und mein jüngstes Kind, ein Mädchen, hat gerade einen Abschluss als Übersetzerin gemacht. Sie sehen: Die Dinge werden nicht notwendigerweise schlechter. Sie sind nicht vorbestimmt, weder zum Guten noch zum Schlechten. Niemand hätte doch gedacht, dass die Sowjetunion untergehen wird. Oder die Berliner Mauer. Alle dachten, das würde bis ans Ende der Zeiten so bleiben. Als ich vor zwei Jahren in Berlin war, war es so bewegend für mich, als ein Freund mir eine weiße Linie auf der Straße zeigte und sagte: Hier stand die Mauer. So viele Menschen starben während des Krieges und danach. Nun gibt es nur noch eine Linie auf dem Boden, um die Mauer nicht zu vergessen. Auf der einen Seite ist es gut zu vergessen, weil man weitermachen muss. Auf der anderen Seite kann man nicht vergessen. Ein serbischer Freund hat mir einmal erzählt, dass er in New York immer eine Bar besucht, die „Yugoslavia“ heißt. Sie ist wie zu Titos Zeiten eingerichtet. Hier treffen sich Leute aus den verschiedenen Republiken des früheren Jugoslawien. Du musst vergessen, aber vergiss nicht zu vergeben. Das gleiche in Südafrika, man muss lernen zu vergeben. Manchmal gibt es eine Verbindung zwischen den Opfern und den Mördern, weil die Mörder einen Verwandten haben, der ein Opfer wurde.

Sie haben über diese Verbindungen zwischen Opfern und Tätern in Ihrem letzten Roman geschrieben. Wie wurde darauf reagiert?

Zum Teil sehr aggressiv. Viele Angehörige der Linken sind es nicht gewöhnt, dass man ausspricht, dass es auch Verbrechen gab, die von der Linken verübt wurden. Es ist verrückt, weil es so lange her ist. Warum nicht akzeptieren, dass auch die republikanische, loyale Seite Verbrechen verübt hat? Mein Roman spielt zu Beginn des Bürgerkriegs. Zu dieser Zeit, als die zentrale Regierung kollabierte, wurden furchtbare Morde begangen. Von den Linken. Alle wollten sich selbst Gerechtigkeit verschaffen. Es ist sehr bequem zu sagen, die Verlierer sind die Guten und die auf der anderen Seite die Bösen. Geschichte ist aber kein Cartoon.

Kann man Ihren Roman als eine neue Stufe in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und dem Bürgerkrieg in Spanien betrachten?

Bis zu einem gewissen Punkt. Das Thema wurde gleich nach dem Krieg diskutiert und sogar während des Krieges. Viele Menschen haben all das reflektiert. Manchmal passiert es, dass die Dinge im Lauf der Zeit vereinfacht werden. Leute aus der Generation meiner Eltern wussten, dass von beiden Seiten Verbrechen begangen wurden. Die Jüngeren mussten glauben, dass die Linken die Guten waren. Als ich jung war, waren wir gegen Franco, aber keine Demokraten. Wir waren Kommunisten, wir wollten keine Demokratie in Spanien. Wir wollten etwas wie die DDR oder Kuba. So verrückt waren wir! Franco wurde von den USA unterstützt, die Kommunisten wurden von der Sowjetunion unterstützt, so einfach war das. In den 1970er Jahren war ich überzeugt, dass West-Deutschland ein faschistischer Staat war. Das entsprach der Propaganda der Linken. Ich konnte nicht akzeptieren, dass ein Land, das Francos Gegner unterstützt, eine Diktatur war. Wir brauchten damals Klarheit. Ich rede über mich selbst, nicht über etwas, das ich gelesen habe. Ich habe so gefühlt, ich habe es als junger Mann erfahren... Aber lassen Sie uns jetzt gehen. Ich will Ihnen etwas von der Atmosphäre hier in Lavapiès vermitteln. Und dann müssen Sie eine letzte, „Verlorene Welt“ aufsuchen: den Botanischen Garten. Er liegt gleich neben dem Prado und wurde Ende des 18. Jahrhunderts als Symbol der Wissenschaft und Aufklärung gegründet, in einer Zeit der Rationalität und Hoffnung, die einige Jahre später endete, als Spanien von Napoleon verwüstet wurde und der furchtbare „Peninsular War“, der Spanische Unabhängigkeitskrieg ausbrach. Wie die „Ciudad Universitaria“ und die „Residencia des Estudiantes“ erinnert mich der Botanische Garten an die „Verlorene Welt“, die nie die Chance bekam, sich zu entwickeln, die Welt der besten Möglichkeiten, die niemals ihre Erfüllung fanden.

Interview: Insa Wilke