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„Den Menschen prägen auch die Dinge, die er verloren hat.“
„Wir sind alle aus der Kindheit vertrieben“ >

„Den Menschen prägen auch die Dinge, die er verloren hat.“

An der Seite von Goran Petrović durch Belgrads Geschichte(n)

An einem regnerischen Augustabend stehen wir mit dem Schriftsteller Goran Petrović und der Kulturwissenschaftlerin und Übersetzerin Hana Copic rauchend vor dem Hotel Excelsior in der Kneza Miloša. Wendet man den Blick nach rechts, thront dort hinter einer sechsspurigen Straße das serbische Parlament mit seiner türkis-kupfernen Kuppel. Unser Hotel liege mitten im politischen Zentrum der Stadt und des Landes, erklärt Goran Petrović, bevor wir uns auf den Weg machen zu einer ersten Führung zu seinen verlorenen Orten der Kulturmetropole des Balkans. Im Gehen erzählt Petrović:

Kaum einer weiß, dass in diesem Hotel Miloš Crnjanski gelebt hat. Er und Ivo Andrić sind unsere größten und wichtigsten Prosa-Schriftsteller. Beide waren Diplomaten. Andrić ging 1939 als Entsandter nach Berlin und kehrte 1941 nach der Bombardierung Belgrads in die Stadt zurück. Er hat während der gesamten Kriegszeit geschrieben, aber wollte seine Werke nicht veröffentlichen.

Und was war mit Crnjanski?

Bis zum zweiten Weltkrieg war Crnjanski Gesandter in Rom. Manche meinen, er sei ein Rechter gewesen. Ein Linker war er auf jeden Fall nicht. Sicher ist, dass er den Kommunisten nicht genehm war, deswegen durfte er nach dem Krieg nicht nach Jugoslawien zurück. Er hat während des Krieges und danach, insgesamt 25 Jahre lang als Emigrant in London gelebt. Erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt holte Tito ihn über seine „Gesandten“ nach Belgrad: als politische Geste, um Westeuropa zu zeigen, was für ein demokratisches Land sein Jugoslawien ist. Damals verbrachte Crnjanski einige Monate im Hotel Excelsior. – Unabhängig davon, welchen Namen dieses Land gerade hatte, es wurde oft und von Vielen verlassen. Als Sie vorhin aus dem Flugzeug gestiegen sind und sich auf dem Flughafen „Nikola Tesla“ befanden, waren Sie an dem Ort des größten Verlustes in der neueren Geschichte. Das übliche Wort „Abflüge“ hat hier eine besondere Bedeutung. In den letzten fünfzehn oder zwanzig Jahren haben ein paar hunderttausend junge Menschen das Land verlassen. Das ist sehr traurig.

Als die Anfrage aus Deutschland kam, ob Sie einen Essay über „Lost words“ schreiben und uns anschließend noch Ihre „Lost Worlds“ in Belgrad zeigen würden, haben Sie an diesen Verlust gedacht?

Nicht nur. Dieses Thema hat auch Berührungspunkte zur Literatur im Allgemeinen und im engeren Sinne zu meiner Poetik, zu meinen Leitmotiven und meiner Besessenheit.. Dabei ist meine persönliche Beziehung dazu ambivalent, ein Schriftsteller ist manchmal ein Chronikschreiber, er ist da, nur um eine Lebensgeschichte „abzuschreiben“. Es gibt nicht vieles, das man verliert und nicht einen Augenblick später wiederfinden kann. Über Dinge, die unwiederbringlich verloren sind, kann ich nicht sprechen, weil sie nicht mehr existieren.

Aber es beschäftigt Sie enorm.

Für mich ist dieses Thema der „Lost Wor(l)ds“ zivilisatorisch mit dem Ende des 20. Jahrhunderts und dem Anfang des 21. Jahrhunderts verbunden. Dinge lassen sich am besten für längere Zeit „verlieren“ oder verstecken, wenn man sie unter ihresgleichen ablegt: das Buch in der Bibliothek, die Wahrheit, indem man darauf beharrt, dass etwas endgültig ist, und die Information in der Fülle von Informationen, mit denen wir heute durch das Internet zugeschüttet werden. Die menschlichen Geschichten verstecken sich in den Informationen. Was ich damit sagen will: Wir lassen uns sehr oft informieren, aber wir reden nicht mehr miteinander.

In Ihrem Essay zitieren Sie Ihre Frau, die Archäologin ist und meint, dass nichts verloren geht. In Ihrem Roman „Die Villa am Rande der Zeit“ gibt es hingegen die Figur einer liebenswerten alten Dame, die mit den Worten auch ihre Realität verliert. Das ist ein furchtbarer Verlust. Gibt es diesen Verlust oder gibt es ihn nicht?

Wenn ich wählen muss, ob ich meiner Frau glaube oder meiner Romanfigur, wähle ich meine Frau. Sie ist mir näher, mit meinen Figuren bin ich nicht jeden Tag zusammen. Aber Scherz beiseite: Meine Frau hat als Archäologin gesprochen. Ich habe manchmal große Angst, weil wir zu viel verlieren und vergessen. Der Titel dieses Projekts sagt es: Ein verlorenes Wort bedeutet auch den Verlust einer Welt. Für meine Poetik und mein Erleben ist wichtig, was unsere Zivilisation verliert oder immer weniger wichtig nimmt: die Details, zu denen auch die Worte zählen. Die Literatur muss in der Lage sein im Großen das Kleine zu sehen und in dem Kleinen das Große zu erkennen.

(Wir sind vor dem serbischen Parlament angekommen, das früher auch der Sitz des jugoslawischen Parlaments war. Goran Petrović zeigt auf das Gebäude.) Das Gebäude ist teilweise das Symbol einer verlorenen Idee, die ein ganzes Jahrhundert dauerte. In diese Idee wurde viel investiert und deswegen auch viel verloren. Die Idee, dass die jugoslawischen Völker sich unter einem Staat versammeln sollten, stammt schon aus dem 19. Jahrhundert. Sie wurde aber erst nach dem 1. Weltkrieg als Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen realisiert. Später hieß es Königreich Jugoslawien. Die Historiker sind sich nicht einig, wie es zur Gründung gekommen ist. Die einen meinen, die Großmächte hätten die einzelnen Balkan-Staaten nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie in einen gemeinsamen Staat gezwungen. Die anderen sagen, Serbien habe ein Jugoslawien unter seiner Führung gewollt. Wie immer es war: Die Wahrheit ist verloren, und vermutlich haben alle ein wenig recht.

Welche Bedeutung hat dieser Ort heute für Sie?

Vor dreizehn Jahren, am 5. Oktober 2000 haben hier die wichtigsten Demonstrationen gegen Milošević stattgefunden. Das Volk ist damals ins Parlament eingedrungen und hat die Regierung gestürzt. Diese Energie ist heute in meinen Augen auch verloren. Momentan läuft übrigens eine Sitzung. (lacht) Wir können hier bleiben und pfeifen, wenn die Politiker rauskommen. Niemand wird sich aufregen. Es wird keinem peinlich sein. Sie könnten sogar sich selbst damit loben, dass sie uns die Demokratie ermöglicht haben und die Möglichkeit, unsere Meinung zu äußern. (Wir gehen durch einen kleinen Park, vorbei an einigen Punkern, die Gitarre spielen und erreichen das dem Parlament gegenüberliegende Gebäude.)

Was ist das für ein Park?

Er wird immer noch Pionier-Park genannt, wie im Sozialismus. Auf der sechsspurigen Straße hinter uns haben nicht nur die Demonstrationen des Jahres 2000 stattgefunden, sondern auch die Paraden für Tito. Hier vor uns, das ist der sogenannte „Alte Hof“. Er wurde von der Dynastie der Obrenovićs gebaut, die vor den Karadjordjevićs an der Macht war. In diesem Flügel sitzt die Stadtverwaltung, in dem anderen der Stadtpräsident. Hinter dem Fenster dort wurde 1903 das letzte Königspaar der Obrenovićs erschossen, ihre Leichen wurden von diesem Balkon geworfen. Ihre Dynastie ging in diesem Haus verloren. Dort (zeigt auf ein schlichtes Nachbargebäude) hat Ivo Andrić im zweiten Stockwerk gelebt. (Wir bleiben am Denkmal von Ivo Andrić stehen, das dem Parlament den Rücken kehrt und die Gasse zwischen „Altem Hof“ und seinem früheren Wohnhaus hinabschaut.)

Warum haben Sie eigentlich, wenn es um das Thema „Verlorene Welten“ geht, das Bedürfnis, so viele historische Details zu erzählen und so weit zurückzugehen?

Ich denke, dass die großen Staaten in Europa wenig über die kleineren wissen. Es ist unverantwortlich und eitel, dass man über diejenigen, die man für kleiner hält nichts weiß und nichts wissen will. Früher war das Bildungssystem doch so, dass man sich nach dem Gymnasium in Geographie, Geschichte und Weltliteratur auskannte. Heute treffe ich im Ausland Intellektuelle, die Serbien mit Sibirien verwechseln. – Als ich einmal in Paris war, fragte ich nach dem Weg und ein freundlicher Franzose sagte, ich solle mitkommen, er habe den gleichen Weg. Als er fragte, woher ich komme und ich „Serbien“ sagte, nahm er unwillkürlich Abstand von mir. (lacht) Er merkte, dass das unhöflich war und sagte: „Ach schön, ich war vor fünf Jahren in Moskau.“ Ich war so sauer, dass ich antwortete: „Ach schön, ich war gerade in London“. (Wir kehren durch den Park zur sechsspurigen Prachtstraße zurück und laufen sie in nördliche Richtung hinab.) Dieser Boulevard heißt heute wieder nach dem König Aleksandar. Früher hieß er „Boulevard der Revolution“. Für Belgrad ist typisch, dass die Straßen an die zehn Mal den Namen wechseln. Auch das ist ein Symbol für Verlust. In diesem Fall wollte das alte Bürgertum nicht sagen, ich wohne am „Boulevard der Revolution“. Ihnen war König Aleksandar lieber. Fünfzig Jahre später, wussten aber viele nicht mehr, dass diese Straße einst so hieß oder sie dachten, gemeint sei Aleksandar Karadjordjević und nicht Obrenović.

Wie hat man das Problem mit den Straßennamen gelöst?

Manchmal, indem die eine Hälfte der Straße den Namen aus vorsozialistischer Zeit trägt und die andere den Namen aus der Zeit nach der Revolution. – Jetzt sind wir an einem Platz der früher nach Marx und Engels benannt war. Heute heißt er „Platz der Republik“. Das wäre ein guter Ort für einen Nekrolog auf die Idee sozialer Gerechtigkeit. Heute, in einer Zeit des brutalen Übergangs, kämpfen Arbeiter nicht mehr für ihre Rechte, an den Demonstrationen am 1. Mai nehmen kaum mehr einhundert Menschen teil. Dies ist also auch ein Ort verlorener Hoffnungen.

Das gilt aber doch für ganz Europa, nicht nur für Serbien.

Natürlich. Aber, ich denke, dass die serbische Gesellschaft auf eine spezifische Weise frustriert ist. Meine Frustration unterscheidet sich natürlich von derjenigen der Menschen, die nicht wissen, was sie morgen zum Frühstück essen sollen. Die gibt es auch. Aber ich bin frustriert, dass ich in einer Gesellschaft lebe und auch sterben werde, der eine Rolle vorgeschrieben ist. Die Rolle des Verbrauchers eines kleinen Marktes, die Rolle eines Landes der Schraubenzieherindustrie, wie ich es in meinem Essay beschreibe. Und mich frustriert zusätzlich, dass diese Sphäre sich auch auf die Kunst ausgedehnt hat.

Aber gibt es nicht auch positive Entwicklungen, gerade in Europa?

Interessanterweise übernehmen wir vom Westen eher das, was nicht so gut ist: ein TV-Format wie „Big Brother“ zum Beispiel, aber eben nicht verlässliche Dienstleistungen in den Banken. Der eigentliche Punkt ist, dass man in unserer Gesellschaft, und das gilt tatsächlich nicht nur für Serbien, wenig auswählen kann. Es gibt scheinbar eine Fülle von Dingen, die man wählen kann. Aber sie sind nicht wesentlich, sondern vollkommen unbedeutend. – Schauen Sie, das ist Architektur aus der Zwischenkriegszeit, die versucht, eine Verbindung zur mittelalterlichen Architektur und zum byzantinischen Erbe herzustellen. (Wir stehen vor einem sehr schönen rot-weiß gemauerten Gebäude – dem ehemaligen Sitz des Ministeriums für Telekommunikationen, in dem sich heute das Postmuseum befindet.) Ich weise Sie darauf hin, weil hier versucht wird, Verlorenes wieder herzustellen. Dieser Raum gehörte fast fünf Jahrhunderte zum Osmanischen Reich. Noch am Anfang des 19. Jahrhundert soll es um die 260 Moscheen in der Stadt gegeben haben. Ich möchte nicht auf der Geschichte herumreiten, aber die Architektur ist ein sichtbarer Teil der Geschichte. Sie präsentiert die Spuren einer Geschichte, manchmal die zärtlichen Abdrücke, manchmal die blutigen Spuren eines Tatorts. (Wir laufen am monumentalen Hauptpostamt vorbei, dass Goran Petrović eher plump als beeindruckend findet.)

Woran erinnert Sie die Kirche, die wir da hinten sehen?

Das ist die Kirche des Heiligen Markus. In ihr finden Sie das Grab von Aleksandar und Draga Obrenović, das Königspaar, das 1903 ermordet wurde. Wenn wir morgen an ihr vorbeigehen, zeige ich Ihnen eine kleine russisch-orthodoxe Kirche, die sich hinter St. Markus versteckt. Sie symbolisiert auch eine verlorene Erinnerung: nach der Oktoberrevolution kamen viele russische Migranten nach Jugoslawien. Die Reichen unter ihnen gingen nach Deutschland oder Frankreich. Bei uns blieben Professoren, Architekten, Offiziere, Ärzte – die Mittelschicht. In Belgrad wurden viele wichtige Gebäude von russischen Architekten gebaut. Es gab russische Lehrer, die in den Provinzstädten als erste in der Grundschule Malerei oder Mathematik unterrichtet haben. Dass solche Dinge durch die Russen ins Land kamen, ist heute meistens vergessen. Genauso gab es in Belgrad Zeiten, in denen andere Völker wichtigen Einfluss ausgeübt haben: Juden, Griechen, Franzosen, Tschechen, Deutsche... (Wir halten an einer Straßenecke.) Schauen Sie, hier sind direkt untereinander das alte und das neue Straßenschild. Das alte bezieht sich auf einen Helden aus dem Zweiten Weltkrieg und einen Helden aus Titos Zeit, das neue, welches eigentlich das alte war, auf den heiligen Berg Athos in Griechenland, der für die orthodoxen Christen wichtig ist.

....dann sind die alten Straßennamen ja gar nicht verloren, wenn alle gleichzeitig benutzt werden.

Das stimmt, aber meine Theorie ist ja auch, dass nichts wirklich und unwiederbringlich verloren geht. – Wenn wir jetzt die Straße überqueren, betreten wir ein Viertel, dass Dorćol heißt. Hier wurde Handel betrieben. Viele Juden haben hier gelebt. Ich mag Dorćol, weil man die Gerüche noch spürt. Man sieht Menschen, die legèr herumlaufen: eine Frau mit Lockenwicklern auf dem Kopf, ein Mann im Unterhemd. Die Balkonblumen sind noch in richtigen Töpfen, nicht in denen aus Plastik. Die sind übrigens für mich eine Metapher für die verlorene Zeit menschlicher Nähe. (Frank bemerkt, dass es hier auch noch Pfützen gibt und dass wir die in Deutschland in den Städten nur noch selten haben. Uns fällt auf, dass wir auch das Wort „Pfütze“ schon lange nicht mehr benutzt haben. Wir erreichen das Restaurant „Herze-Gowina“.)

Sie mögen atmosphärische Dichte und Orte, an denen Geschichten vorstellbar werden. Das ist mir schon aufgefallen, als ich Ihren Roman „Ein Sternenzelt aus Stuck“ gelesen habe. Er spielt an klassischen Orten der Literatur: in einem Hotel, einem Kino und im Zirkus. Was sind das für Orte für Sie?

Das Hotel und das Kino sind Metaphern für ein Land, das es nicht mehr gibt. Der Zirkus ist die Karnevalisierung von allem, was wir heute erleben. Aber wissen Sie, auch ein Interview ist ein Ort des Verlustes. Einiges, das man sagt, erforderte eine längere Erklärung, manches geht in der Übersetzung verloren. Am Ende, wenn man entscheidet, was abgedruckt wird, lässt man wieder Dinge weg. Ich habe einmal gesagt: Belgrad ist schön, aber etwas schmutzig. Die Schlagzeile lautete dann, Petrović sagt: „Belgrad ist eine schmutzige Stadt“. Oder denken Sie daran, was alles in einer Kafana verloren geht! (lacht) Es gibt einen Roman des großen serbischen Dramatikers Dusan Kovacevic, der heißt „Der Spion vom Balkan“. Die Hauptfigur ist ein Schriftsteller, der viel in der Kafana, der Kneipe, geredet hat und nie etwas aufschrieb. Nach dreißig Jahren kamen seine Verfolger von der Staatssicherheit und brachten ihm einen Stapel Papier: all seine Romane und Gedichte. Viele Dinge passieren hier auf völlig irrationale Weise, aber vor allem ist die Beziehung, die man zur Zeit hat, vollkommen anders.

Wie meinen Sie das?

Ich fahre ziemlich oft die Strecke nach Kraljevo, wo ich herkomme. Das sind nur 200 Kilometer, aber der Bus braucht drei Stunden und mehr , weil er an Stationen hält, die gar nicht vorgesehen sind. Oder weil der Fahrer eine halbe Stunde Kaffeepause macht. Er hat ja keine Eile. Oder er will jemandem einen Gefallen tun und transportiert etwas und muss deswegen eine Umweg fahren. Eine halbe Stunde Verspätung ist keine halbe Stunde Verspätung. Multipliziert mit vierzig Passagieren ergibt es zwanzig Stunden verlorener Zeit.

Das ist heute noch so?

Ich komme ins Erzählen... Aber es stimmt ungefähr. Unsere Züge haben eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 42 Kilometern pro Stunde. Unsere Fluggesellschaft heißt immer noch JAT, was Jugoslovenski Aerotransport bedeutet. Die Leute meinen aber, es sei die Abkürzung für „Joke about time“. (lacht) Der kulturelle und soziale Zusammenprall der Habsburger und der Osmanen spiegelt sich in der Mentalität der Leute hier. Zeit mag objektiv gleich verlaufen, tatsächlich hat sie nicht überall das gleiche Maß. Bei uns konzentriert sich die Geschichte. Hier passieren Dinge in ein paar Jahren, die sich in der Schweiz langsam in Jahrhunderten entwickelt haben. Es gibt keine Kontinuität hier. Nur wenige Menschen haben etwas von ihrem Großvater geerbt. Die Gesellschaft befindet sich auf einer geographisch-geschichtlichen Ebene, über die immer ein rauer Wind weht. Da kann nichts wurzeln.

Das finde ich merkwürdig: Genau dieses im Vergleich zu Westeuropa verschobene Zeitverständnis bedeutet doch Kontinuität. Wie übrigens auch, dass man die alten Straßennamen stehen lässt und nicht einfach auswechselt, wie man es in Deutschland tun würde. Die Spuren anderer Zeiten sollen sichtbar bleiben.

Ich glaube, dass man hier die Gegenwart nicht lebt. Hier lebt man entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Warum erinnert man hier ständig an die „glorreiche“ Geschichte! Oder glaubt dem sozialistischen Zukunftsversprechen, obwohl es sich nie erfüllt hat! Die Politiker und Politikerinnen sprechen ihre Wähler dadurch an, dass Sie über die Vergangenheit oder über die Zukunft reden. Selten sind diejenigen, die über die Gegenwart reden.

Ein Symbol dafür ist das Mitić-Loch, das in Ihrem Roman „Die Villa am Rande der Zeit“ vorkommt. Das größte Warenhaus des Balkans sollte dort entstehen. Es wurde vor dem Krieg geplant und dann nie gebaut, aber konnte so immerhin auch nicht abgerissen werden. Die Baugrube ist noch da. Ihre alte Dame Natalija Dimitrijević geht dort einkaufen, als wäre es gebaut worden. – Was würde sich denn verändern, wenn man in der Gegenwart lebte?

Dafür müssten Vergangenheit und Zukunft in Berührung kommen. Die Gegenwart ist nichts anders als ein Berührungsort zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Es gibt keine glücklichen Gesellschaften, die nur in der Vergangenheit oder nur in der Zukunft leben. Die pragmatischen Gesellschaften, die nur und ausschließlich in der Gegenwart leben, gibt es zwar durchaus, sie sind aber, vermute ich, auch nicht glücklich. Vielleicht wäre die Antwort auf Ihre Frage, dass jeder einzelne Mensch für sich selbst über all diese Zeiten nachdenken kann. Ein Mensch wird mehr durch seine Verluste geprägt als durch seinen Besitz. Oft wissen wir die Dinge, die wir haben, nicht zu würdigen. Das Mitić-Kaufhaus symbolisiert für mich übrigens diesen geographische Raum: Dieses große Loch, allein für das Fundament. Und dann kam der Krieg und das Projekt wurde nicht realisiert. Das scheint ein verfluchter Ort zu sein, weil seitdem niemand auf dem Grundstück etwas bauen konnte. Es gab mal Investoren, aber dann haben sie Konkurs gemacht.

Seit wann beschäftigt Sie dieses Thema des Verlusts?

Man sagt ja, dass Schriftsteller eigentlich immer dasselbe Buch schreiben. Es gibt eine Geschichte von mir, die nicht ins Deutsche übersetzt ist. Sie handelt von einem blinden, gelähmten Greis. Er hört sich jeden Tag den 3. Satz der 3. Symphonie von Brahms an. Unzählige Male nur diese fünf Minuten. Ein jüngerer Mann fragt ihn nach dem Grund. Er antwortet: „Wenn Gott überhaupt etwas versteht, dann diese Musik. Eines Tages, unabhängig davon wie fern er ist, wird diese Phrase an Gottes Ohr gelangen.“ Ich meine das gar nicht theologisch. Sondern im Sinne des menschlichen Erzählens, der Literatur, der Narration... Wir alle wiederholen eigentlich immer dasselbe. Hoffentlich wird uns jemand hören...

Was stört Sie an der heutigen Zivilisation so sehr oder: Was macht Sie so traurig?

Zeitgenössische Gesellschaft konzentriert sich vor allem auf das Visuelle. Man hat nie mehr in andere Leben geschaut als heute. Wir haben uns nie mehr voneinander gezeigt. Für mich ist paradox, dass wir trotzdem nie weniger gesehen haben als heute. Das werfe ich auch mir selbst vor. Aber lassen Sie uns jetzt essen. Hier gibt es Kaymak, Ajvar, Tomaten, heißes Brot und Fleisch. Hier kann die Geschichte nie „kalt“ werden, aber das Essen schon.

(Am nächsten Morgen treffen wir uns direkt vor dem Parlament. Goran Petrović zeigt auf die beiden Skulpturen, die den Eingang flankieren. Es sind zwei Pferde, die sich merkwürdigerweise jeweils über einem Menschen aufbäumen.)

Diese Pferde kommen in einem alten Volksepos vor. Da nur wenige den Text kennen, werden die meisten Menschen sagen: Das ist das einzige Parlament, vor dem die Pferde die Menschen reiten und nicht umgekehrt. (lacht) Ein slowenischer Politiker soll bei der Gründung Jugoslawiens gesagt haben: „Wir haben auf ein gutes Pferd gesetzt, wir werden ihnen einen Esel zurückgeben.“ Das ist auch passiert, die „Gelegenheit“ namens „Jugoslawien“ wurde genutzt und als man sie nicht mehr brauchte, wurde man sie los.

Was für eine Rolle spielt die Stadt mit ihrer Vergangenheit eigentlich für Ihre Romane, ich meine, als Kulisse ihrer Geschichten?

Gestern Abend sind wir durch eine Straße gekommen, in der die Wohnung von Natalija Dimitrijević lag. Das war die Wohnung eines Freundes, den ich oft besucht habe. Und da vorne (Wir sind inzwischen am Terazije-Platz angekommen, hinter dem die Fußgängerzone beginnt, und stehen vor dem Jugendstil-Bau des Hotels Moskva.), auf der anderen Straßenseite war die Kolonialwaren- und Spezereienhandlung von Svetozar Botorić, der auch in „Die Villa am Rande der Zeit“ vorkommt. Er war ein sehr reicher Mann, hat sich aber auch für Kunst interessiert. Eine der ersten Filmvorführungen fand in seinem Geschäft statt.

Was war das für eine Gegend hier?

Terazije ist ein türkisches Wort für Wasserbehälter. Früher wurde auf diesem Platz Wasser gesammelt. Diese Straße, die Brankova heißt, führt zum Bahnhof. Es gab hier viele Geschäfte für Hüte, Mützen und handgemachte Koffer. Jeder, der nach Belgrad kam, musste durch diese Straßen gehen, um ins Zentrum zu gelangen. Hier gab es auch ein sehr schönes, altes Kino. Es hieß „Cosma“ nach dem Berg in der Nähe von Belgrad. Es roch dort nach Bohnerwachs, und es gab noch diese Klappsessel. Obwohl das Kino in „Ein Sternenzelt aus Stuck“ in Kraljevo ist, habe ich beim Schreiben immer ans „Cosma“ gedacht, vor allem an diesen Geruch. Also, die Literatur kann mehrere Welten verbinden. Und es ist der Literatur und nicht den Fluggesellschaften zu verdanken, dass die Welt klein ist.

Man wird selbst ganz nostalgisch, wenn man „Die Villa am Rande der Zeit“ liest und so detailliert davon erzählt wird, welche Waren es damals gab und welche schönen, geheimnisvollen und vielversprechenden Namen sie hatten.

Ich habe Bücher über das alte Belgrad gelesen und auch über Botorićs Geschäft. Ich habe eine Liste der spezifischen Waren gefunden, die es nur bei ihm gab. Verschiedene Sorten von Reis, Linsen, Öl. In diesen Listen habe ich auch ein Wort gefunden, das ich nicht kannte: „Barbanac“. Es hat mir sehr gut gefallen, aber ich habe nichts über seine Bedeutung erfahren können. Ich habe recherchiert und Linguisten gefragt. Niemand kannte es. Also habe ich es einfach so in der Waren-Liste stehen lassen. Einige Jahre hat das niemanden gestört. Dann wurde „Die Villa am Rande der Zeit“ übersetzt und die Übersetzer fragten mich: Was heißt denn Barbanac? Es war mir peinlich, dass ich es selbst nicht wusste.

Sie haben es einfach so stehen lassen, es steht auch in der deutschen Übersetzung.

Dieses Buch ist in vielen Sprachen übersetzt worden und war in Serbien sehr erfolgreich. Als es zu einer Kiosk-Ausgabe kam, die man zusammen mit einer Zeitung günstig kaufen konnte, wollten die Journalisten der Tageszeitung „Politika“ mit einem Interview Werbung für das Buch machen. Ich hatte damals keine Lust, ein Interview zu geben, und habe einen Essay über dieses Wort geschrieben. Die Redaktion hat daraus einen Wettbewerb gemacht: Helfen Sie uns das verlorene Wort wiederzufinden! Viele Leute haben sich per Brief oder Telefon bei der Zeitung gemeldet, es kam zu schönstem Unsinn. Nach ungefähr zehn Tagen hat bei mir im Büro in Kraljevo, wo ich damals noch lebte, das Telefon geklingelt. Gemeldet hat sich ein Komponist, der fast 90 Jahre alt war. Er meinte: „Herr Petrović, hätten Sie das Buch „Pop Ćira i pop Spira“ gelesen, wüssten Sie, was Barbanac ist. Es steht schon auf der fünften Seite.“ Dieses Buch ist Schullektüre und so bekannt wie die Märchen der Brüder Grimm. Barbanac ist ein bestimmtes Öl, das man für die Lampen verwendet, die vor den Ikonen brennen. – Aber kommen Sie, wir müssen heute noch einige verlorene Orte aufsuchen. Sehen Sie zum Beispiel das hohe Gebäude da drüben? Das ist der Palast „Albanien“. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er das höchste Gebäude in Belgrad. Der Name hat nichts mit territorialen Ansprüchen zu tun. Es gab unten im Haus einfach eine Kneipe, die „Albanien“ hieß.

Schon wieder diese Namen! Gestern waren wir in einem Restaurant, das „Herze-Gowina“ hieß. Antonio Muñoz Molina erzählte von einer New Yorker Bar, die „Yugoslavia“ heißt und in der sich die Emigranten der verschiedenen Balkan-Länder treffen. Ausgerechnet in der Kneipen-Kultur wird der ehemalige Vielvölkerstaat bewahrt.

Alles ist immer noch da, man muss nur wissen wo. (lacht) Stellen Sie sich vor, dass ein Mann sein ganzes Leben in einem Dorf verbracht hat, ohne es je zu verlassen und trotzdem in sechs oder sieben verschiedenen Staaten gelebt hat. Das erklärt vielleicht die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität. – Jetzt kommen wir zum Nationalmuseum, in dem meine Frau arbeitet. Es hat seit zwölf Jahren wegen Renovierung nur mit eingeschränktem Betrieb geöffnet. Auch das Museum für gegenwärtige Kunst würde ich Ihnen gern zeigen. Es ist seit sieben Jahren für das Publikum geschlossen.

Das scheinen sehr aufwendige Renovierungsarbeiten zu sein.

So etwas dauert bei uns nie nur ein oder zwei Jahre. Aus dem Staatsbudget bekommt die Kultur 0,6 Prozent. Der Leiter der Belgrader Philharmonie hat einmal gesagt, dass das kein Kulturbudget ist, sondern ein statistischer Fehler. Aber das Problem liegt tiefer: Unsere Politiker haben begriffen, dass die Leute, denen Kultur etwas bedeutet, keine wichtige Wählergruppe bilden. Und durch die Kriege, das Embargo, die Bombardierung und die Kriegsgewinnler ist unser Land heute wirklich sehr arm. Man denkt immer, die Serben schätzen ihre Geschichte so sehr. Aber es ist doch vielsagend, dass wenige Leute wissen, wem dieses Denkmal gewidmet ist, nämlich dem Fürsten Mihailo Obrenović. (Zeigt auf ein großes Reiterdenkmal vor dem Nationalmuseum.) Er war immerhin ein Modernisierer und hat Serbien die Unabhängigkeit von den Osmanen gebracht. Heute sagt man einfach: „Wir treffen uns beim Pferd.“ Bei seiner Errichtung stritt man sich darum, dass der italienische Bildhauer den Fürsten barhäuptig dargestellt hatte. Das gehörte sich nicht: Ein Staatsoberhaupt ohne Kopfbedeckung. Ich will damit sagen: Wir neigen dazu, uns in sinnlose Diskussionen zu vertiefen. Die Renovierung dieses Museums hat noch nicht einmal angefangen, unter anderem weil man sich immer noch nicht geeinigt hat, wie es aussehen soll.

Diese „Diskussionskultur“ bedeutet dann aber schon eine tiefgreifende Veränderung. Man sieht ja an der imposanten Architektur, dass Kultur durchaus einmal Bedeutung gehabt haben muss.

Naja, das Aussehen eines Gebäudes kann täuschen. Vor dem Krieg war das Nationalmuseum eine Bank... Belgrad ist viermal wirklich schwer bombardiert worden. An manchen Gebäuden kann man sehen, wo dadurch der Kontext zerrissen wurde. (Wir laufen in die Fußgängerzone und bleiben vor einem Restaurant der Kette „Vapiano“ stehen.) Ein sehr schönes Beispiel dafür, wie sich die Zeitschichten übereinanderlegen: Hier war früher das noble Stadtrestaurant „Der Russische Kaiser“. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist daraus ein Selbstbedienungsrestaurant geworden – sehr aussagekräftig für die beiden Epochen. Und das „Vapiano“, eine Kette, ist es für unsere Zeit auch. Jede Epoche hat ihre Symbole. (Goran Petrović zeigt auf einen kleinen Platz, auf den Sand aufgeschüttet wurde, um einige Liegestühle aufzustellen. Beach-Feeling in der Fußgängerzone.) Anstelle dieser „bequemen “ Installation stand hier vor dreißig Jahren ein Glaswürfel, in dem die Bibliothek Neuerscheinungen und Zeitschriften ausstellte. Eine Art von Schaufenster, ein kleiner Ausstellungsraum. Junge Menschen trafen sich „am Würfel“. 1984 war in einer dieser Zeitschriften meine erste Erzählung veröffentlicht worden. Immer wenn ich an dem Würfel vorbeiging, habe ich einen Abstecher gemacht und hab geschaut, ob sie noch da ist. Und stellen Sie sich vor: Früher war jedes vierte Geschäft hier eine Buchhandlung. Es wurde viel publiziert und viel übersetzt. Und dabei war alles sehr ernsthaft. Heute wird auch viel publiziert und übersetzt, aber es herrschen die Regeln des Marktes. (Frank wirft ein, dass kenne er auch aus der DDR. Das Problem sei gewesen, dass es zwar viele Buchhandlungen gab, aber jede das gleiche und vor allem ein kleines Sortiment hatte.)

Wir sind gerade am Französischen und am Spanischen Kulturinstitut vorbeigekommen. Auch das Goethe Institut liegt mitten in der Fußgängerzone. Als wir da vorbeigingen, hat Hana Copic gesagt, es sei in den 90er Jahren das Fenster zur Welt gewesen. Ich erinnere mich noch an die Berichte, als man die Deutsche Botschaft und das Kulturinstitut der Amerikaner nach der Unabhängigkeit des Kosovo angegriffen hat. Woran erinnern Sie sich in diesem Zusammenhang?

Bis heute ist nicht klar, ob und inwiefern diese Proteste inszeniert bzw. dirigiert wurden. Das gilt für alle Demonstrationen. Wir werden erst später erfahren, nämlich aus den Geschichtsbüchern, ob sie tatsächlich spontan waren. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte Jugoslawien einen Pakt mit Hitler unterschrieben. Manche Historiker behaupten, dass damals der britische Geheimdienst die darauffolgenden Proteste in Belgrad unterstützt hat und somit durchaus mitverantwortlich für die Folgen war. Vereinfacht gesagt: Hitler war sauer und hat Belgrad am 6. April 1941 bombardiert. Das hat die Stadt zu großen Teilen zerstört. Wobei man dann auch erwähnen muss, dass 1944 noch ein weiterer sinnloser und nicht weniger skrupelloser Luftangriff durchgeführt wurde – von den Alliierten.

Dieser Teil der Geschichte des damaligen Luftkriegs ist tatsächlich nicht so bekannt wie die Angriffe auf deutsche oder englische Städte.

Nach dem Angriff der deutschen war der Widerstand innerhalb von 20 Tagen gebrochen. Das Land wurde zerteilt. Kroatien wurde unabhängig und profaschistisch. Teile von Makedonien wurden dem ebenfalls profaschistischen Bulgarien zugeschlagen. Dalmatien, Montenegro und ein großer Teil des Kosovo den Italienern. Von Serbien blieb nur ein kleines Gebiet übrig. Dann ging alles seinen Gang wie im restlichen Europa. Belgrad wurde schnell „judenfrei“ und jeder Widerstand brutal niedergeschlagen.

Sie kommen aus einem Ort, der darunter gelitten hat: 1941 ermordeten die Deutschen in Kraljevo aus Rache für einen Hinterhalt fast zweitausend Männer, Frauen und Kinder.

Es galt das Gesetz: Fünfzig Zivilisten für einen verwundeten und einhundert für einen toten Deutschen. Am Anfang arbeiteten die beiden serbischen Widerstandsbewegungen – die prokommunistische Volksarmee und die promonarchistischen Tschetniks – zusammen. Nach zwei oder drei Monaten gingen sie eigene Wege und zum Weltkrieg hatte Serbien dann auch noch einen Bürger- und Klassenkrieg.

Spaltet der Bürgerkrieg wie in Spanien die Familien in Serbien bis heute?

Vielleicht nicht in dem Ausmaß, aber der Zwiespalt ist noch präsent. (Wir halten an einem himmelblau gestrichenen, alten Gebäude.) Hier hat mein Vater gearbeitet. Er war Schlosser und ist erst später Ingenieur geworden. Er hat für ein großes Unternehmen gearbeitet, dass Ziegel für extrem heiße Temperaturen produzierte. Dafür verwendeten sie deutsche Technologie. Wenn mein Vater Dienstreisen nach Belgrad gemacht hat, kam er in dieses Gebäude, es war also das Erste, was ich von Belgrad gesehen habe. 1963 war er für eine Fortbildung in Deutschland. Er kam mit einem Haufen Spielzeug zurück, das man damals hier nicht kaufen konnte. Ich war komplett ausgerüstet: Ich hatte einen Gürtel mit Pistolenhalfter. Er hat dort auch einen Kühlschrank von Bosch gekauft, den meine Mutter erst letztes Jahr ersetzt hat. Nicht weil er kaputt gegangen wäre, er wurde nur zu laut. (lacht) Einer der wichtigsten Ratschläge meines Vaters: Kauf deutsche Produkte. Sie haben gute Qualität und sind langlebig. Mein Vater war technisch geprägt. Ich als Schriftsteller kann ergänzen, dass auch die Worte langlebig sein können. Die deutsche Sprache ist mit der Industrie in unsere eingeflossen, die türkische durch die Osmanen. Die Serben sind stolz auf Kaymak und Rakiya, aber es sind türkische Worte und Dinge. Eine Sprache ist wie ein Fluss mit vielen Zuflüssen. Eine Sprache ist gleichzeitig der Zufluss einer anderen Sprache...

Sprache, ihre Entwicklung und ihre Eigenschaften sind ein ständiges Thema in ihren Büchern. Der Filmvorführer Rudi Prohaska, eine Hauptfigur in „Ein Sternenzelt aus Stuck“ ist zum Beispiel sehr sprachgewandt und liebt seine Frau auch in verschiedenen Sprachen. Deutsch ist „athletisch“, Serbisch hingegen auf sympathische Weise „geschwätzig“, meint Prohaska. Jelena, der jungen Frau aus „Die Villa der Rande am Zeit“, die einige Jahrzehnte später lebt, wird hingegen immer übel, wenn sie ihre Muttersprache sprechen soll. Wie hat sich die serbische Sprache verändert in den letzten Jahren?

Als ich die serbische Sprache als eine bezeichnet habe, in der man sehr gut über alles sprechen kann, sobald alles vorbei und nicht mehr zu ändern ist, habe ich über mich selbst gelacht. Aber es war ein bitteres Lachen. Sprache ist eines der obsessiven Themen in meiner Literatur. Wenn man die Melodie einer unbekannten Sprache hört, lässt sich viel entdecken. Lassen Sie mich eine Analogie versuchen: Ein Medizin-Lehrbuch berichtet von einem Mann, der blind geboren wurde. Ein halbes Jahrhundert konnten ihm die Ärzte nicht helfen. Alles, was er über die Welt wusste, hatte er sich ertastet, geschmeckt und gehört. Vor allem aber hatten ihm seine Nächsten von der Welt erzählt, wie die Sonne aussieht oder eine Wolke, was für Farben ihn umgeben. Eines Tages, er war über fünfzig Jahre alt, fand man eine Möglichkeit ihm zu helfen. Das ist der glückliche Teil der Geschichte. Der traurige Teil beginnt, als die Operation geglückt war und er wieder sehen konnte. Er war so enttäuscht und hatte durch die Erzählungen eine so andere Welt erwartet, dass er sich in einen verdunkelten Raum zurückzog. Die Sprache ist manchmal allmächtig, aber manchmal auch hilflos. Heute ist allen Sprachen gemeinsam, dass sie langsam austrocknen. Wir alle benutzen weniger und weniger Worte. Und wir drücken uns immer weniger präzise aus. Schlimm ist, dass dies auch passiert, wenn wir über unsere Gefühle sprechen.

Ich glaube, genau diese Ahnung, dass wir verlernen, bestimmte Dinge präzise und ohne Floskeln auszudrücken, war ein Grund für dieses Projekt. Man merkt diese Hilflosigkeit, die Sie gerade beschreiben und die Unfähigkeit „miteinander“ zu sprechen, auch im Sprechen von und über Europa. Wie könnte oder müsste man in Ihren Augen heute von Europa erzählen?

Zunächst wäre zu klären, wer denn dazu gehört. Die Briten sehen sich vielleicht eher als Insulaner. Sie sagen oft, dass sie dem Kontinent nicht angehören, dass sie etwas Besonderes sind. Die Frage, wo Europas Grenzen liegen, hängt wohl auch vom eigenen Standpunkt ab. Für Sie ist der Osten nicht dasselbe wie für mich. Diejenigen, die südlich sind, sehen sich in erster Linie als Mediterrane. Europa ist ein Komplex der Völker, der verschiedenen historischen Umstände und Gesellschaften. Die Zeit verläuft nicht in jeder Ecke der Welt auf die gleiche Art und Weise. Die Nacht ist für einen jungen Menschen in einer Großstadt lang, für einen Bauern hingegen ist der Arbeitstag sehr lang. Man müsste all das in ein Glas tun und schütteln. Ich glaube, dass nicht einmal der beste Barkeeper der Welt daraus einen trinkbaren Cocktail machen könnte.

Also halten Sie Europa für unmöglich?

Wir befinden uns in einem Vorraum zum Vorraum von Europa, deswegen wird hier viel über Europa geredet. Werden sie uns annehmen? Werden sie nicht? Sollen wir an die Tür klopfen oder klingeln? Die Idee der Europäischen Union ist eine sehr noble. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich würde sagen, das ehemalige Jugoslawien hatte auch manche Eigenschaften der Europäischen Union. Für mich ist die Idee, sich für einen guten Zweck zusammenzutun, grundsätzlich positiv. Aber im Moment geht es ständig um diese europäischen Zonen. Die einen gehören zur A-Zone, die anderen zur B-Zone. Wer kann garantieren, dass in zehn Jahren nicht noch eine C-Zone eingeführt wird? Das heißt, wir steuern wieder auf eine Atomisierung des Raums zu.

Wie müsste man erzählen, um einen Zusammenhang wieder vorstellbar werden zu lassen?

Wenn es eine europäische Erzählung gibt, dann ist jeder ihrer Teile in einer anderen Sprache erzählt. Die Helden und die Ereignisse in dieser Erzählung sind miteinander verbunden. Mit all diesen Einzelheiten würde Europas Erzählung einem riesigen Roman ähneln. Ein Roman, der hunderttausende von Fußnoten hätte und zigtausend Fußnoten der Fußnoten. Das ist megaloman, aber es gefällt mir. Es wäre nur gut, einen Leser zu haben, der alle Sprachen kennt und nicht auf Übersetzungen angewiesen ist.

Das heißt ja, dass all die Kulturinstitute, die sich darum bemühen, eine einheitliche europäische Öffentlichkeit herzustellen, letzten Endes Sisyphosarbeit betreiben.

Ich bin gegen den Einheitlichkeitswahn in Bereichen wie der Kunst. Ein System für internationale Maßeinheiten ist hilfreich, damit der Meter hier das gleiche bedeutet wie zweitausend Kilometer weiter östlich oder westlich. Aber der Versuch, eine einheitliche europäische Erzählung zu schaffen und nicht diesen riesigen Roman, wäre falsch. Das würde uns dazu bringen, die gleiche Meinung zu verschiedenen Dinge zu haben. Der Prozess, der leider in diese falsche Richtung geht, hat meiner Meinung nach schon angefangen.

Was meinen Sie konkret?

Unsere Zivilisation versucht seit tausenden von Jahren, ihre Gefühle auszudrücken. Wir haben seitdem unterschiedlichste Briefe aneinander geschrieben. Manche waren kaum verständlich, andere waren von Shakespeare. Ich meine: Wir haben uns alle sehr bemüht, um Europa zu bauen, die klügsten Köpfe haben sich daran beteiligt. Um nun etwas zu erreichen, das Twitter heißt und Kommunikation auf vierzig Zeichen begrenzt? Erlauben Sie mir einen Vergleich. Das ist so, als wäre man im Hypermarkt: Die Musik ist sehr beruhigend, aber es ist eigentlich keine Musik. Die Kassen gleichen kleinen Altären. Die Familien machen den Hypermarkt zum Ziel ihres Wochenendausflugs. Bewusst oder unbewusst schielen wir in anderer Leute Einkaufswagen, fühlen uns schlecht, weil die anderen mehr als wir haben, oder fühlen uns gut, weil wir mehr als die anderen haben. Wir nehmen uns die Waren in Augen- oder Armhöhe. Selten bücken wir uns zum unteren Regal oder strecken uns nach oben. – Mir sind die kleinen Familiengeschäfte und der grüne Markt lieber. Aber das soll hier ja kein Hypermarktgespräch werden.

Ein gutes Bild. Bezogen auf Europa könnte man ergänzen: Wir sind stolz, dass wir in unserem Wagen gesunde Sachen haben und verachten diejenigen, die in unseren Augen nur Fastfood oder minderwertiges Zeug stapeln. Im Namen des einen oder anderen Kulturinstituts würden wir dann ganz im Sinne der guten Sache den Finger heben und mahnen: Ernährt euch gesund, lasst das Fast Food sein.

Ich möchte nicht, dass unser Gespräch zu bitter wird. Zu süß darf es aber auch nicht sein, und ich muss schon sagen, dass die Welt im Grunde ein fürchterlicher Ort ist. Die Verbrauchergesellschaft an sich ist gar nicht so schlimm. Ich mag auch gute Kleidung, und ich schreibe natürlich nicht mit einer Feder, die ich ins Tintenglas tauche. Damit kaufe ich aber kein Glück, keinen Respekt und Selbstrespekt. Die Verbrauchermentalität darf nicht in alle Bereiche und zum Beispiel nicht in den der Kunst eingehen.

Was heißt das für die Kunst?

Wenn es um Kunst und um Denken geht, muss man neugierig sein. Auch, um den Anderen zu hören und ihn zu verstehen. Man muss etwas wie die Neugier, die für Kinder typisch ist, in sich erhalten. Man darf nicht erlauben, dass sein Gehirn am stereotypen Denken erkrankt. Man kann sich dagegen wehren und üben, die Augen weit zu öffnen. Literatur weitet den Blick. – Wir sind übrigens inzwischen in Savamala. Dieses Viertel stammt aus der türkischen Epoche und ist glücklicherweise noch nicht aufgeputzt worden. (Wir laufen über grobes Kopfsteinpflaster. Die Gebäude um uns haben nicht mehr als ein Stockwerk und es ist still.) Auch dies ist noch ein menschlicher Stadtteil. Nach dem Krieg haben hier Maler und Künstler gelebt.

Was wollen Sie uns hier zeigen?

Den Ort an dem vor dem Krieg die Nationalbibliothek stand. (Wir kommen zu einer überwucherten Brache zwischen den Häusern.) Sie wurde 1941 durch Brandbomben zerstört. Über 300 000 verschiedene Bücher verbrannten, darunter ein paar Tausend Inkunabeln, Landkarten- und Zeitschriftensammlungen, die persönliche Bibliothek von Vuk Karadžić. Am schlimmsten: Fast eintausendfünfhundert Bücher, die zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert mit der Hand geschrieben wurden, sind auch verbrannt. Die wichtigsten Bücher standen schon in Metallcontainern zur Evakuierung bereit. Der damalige Bildungsminister hatte aber damals einen Tag vor dem Angriff verordnet, dass die Evakuierung aufgeschoben werden sollte. Da gibt es nichts weiter zu sagen. Es ist ein Ort der verlorenen Erinnerung.

Hat man diese Brache absichtlich als Denkmal so gelassen?

Wieder das gleiche Spiel: Die Beteiligten streiten sich seit Jahrzehnten, ob hier etwas aufgebaut werden oder ob dies ein Erinnerungsort bleiben soll und wenn ja, wie man ihn gestaltet. Es gibt einen Gedenktag des verbrannten Buches, der lange Zeit auch der Tag der Nationalbibliothek war. Neulich wurde der Tag der Nationalbibliothek gewechselt, weil man die Deutschen nicht länger mit ihrer Schuld konfrontieren wollte. – Für mich ist dieser Stadtteil ein Ort, an dem es noch Stille gibt. Auch die ist verloren gegangen. Belgrad leidet nicht nur unter Luftverschmutzung, sondern auch unter akustischer Verschmutzung. Das werden Sie merken, wenn wir uns jetzt auf den Weg zum Kalemegdan machen.

Auf die Frage, wie Hana Copic, die 1978 geboren wurde, den letzten Krieg und seine Folgen erlebt hat, antwortet sie, dass sich ihre Erinnerungen mit denen an die Kindheit vermischen. Es sei kein Spaß gewesen, in den 90ern aufzuwachsen. Plötzlich habe sich alles, was sie Zuhause gelernt hatte, verändert. Dieses Lebensgefühl einer fundamentalen Verunsicherung sei geblieben. Auch heute könne man nicht sagen, dass es vorbei sei. Aber ihre Generation habe gelernt, in einer ständigen Krise zu leben und damit, in eine andere Welt versetzt worden zu sein, ohne selbst etwas getan zu haben. – Wir sind fast am Kalemegdan angekommen, der Festung, die ein großer Park umgibt und die auf der Anhöhe erbaut wurde, von der aus man beobachten kann, wie Donau und Save sich zu einem mächtigen Strom vereinen. Goran Petrović erklärt:

Die ganze Stadt liegt auf antiken Ruinen, die ersten Siedlungsformen sind ca. 7000 Jahre alt. Belgrad hat eine ideale Lage an der Mündung zweier großer Flüsse. Das Zentrum des mittelalterlichen Serbiens lag allerdings viel weiter südlich, Richtung Kosovo. Auf dem Kalemegdan gab es in allen Phasen eine Festung. (Wir erfahren vom tragischen Schicksal des Erbauers der Festung in ihrer heutigen Form, einem österreichischen General, der einer Intrige zum Opfer fiel. Kurz vor der Zugbrücke zur Burg hört man plötzlich Geräusche von aufschlagenden Bällen: Im Burggraben befinden sich Tennisplätze.) Hier kommen nicht nur Touristen, sondern auch die Bewohner der Stadt her. Der Unterschied zwischen den staatlichen Einrichtungen hier und in Deutschland ist, dass man dem „kleinen Mann“ bei Ihnen das Leben leichter zu machen versucht. Das Gegenteil ist hier der Fall. Ohne Auto kommt man am Wochenende zum Beispiel nicht zu den Ausflugsorten im Umland. Dabei müsste man nur funktionierende Busverbindungen einrichten.

War das unter Tito anders?

Nicht wirklich. (Wir laufen im inneren Burgring an Panzern vorbei – Museumsstücke, die beim Eingang ins Militärmuseum ausgestellt werden.)

Bei uns würde man solches Kriegsgerät nicht ausstellen. Kriegerische Eigenschaften passen nicht mehr zum deutschen Selbstbild. Dabei ist Deutschland der drittgrößte Waffenproduzent in der Welt.

Die große Welt ist reich, lebt im Überfluss und kann sich manchmal leisten, eine doppelte Moral zu haben. Auch Schweden war bis zum Zweiten Weltkrieg ein armes Land. Es wurde durch Eisen- und Stahl-Export an beide Seiten reich. (Wir haben den höchsten Punkt erreicht und vor uns öffnet sich der historische, weil gerade der Zeit enthobene Blick auf Donau und Save.) Die Türken haben diesen Ort den Berg der Kontemplation genannt. Hier verläuft eine der Grenzen zwischen Ost und West. Auf der anderen Seite der Flüsse fängt die Vojvodina an. Auch wenn es geologisch nicht stimmt, sagt die Legende, dass hier das Panonische Meer anfing, das dreißig Millionen Jahre alt war und vor sechshunderttausend Jahren verschwunden ist. Es wurde von den Alpen und den Karpaten begrenzt und umfasste die heutige Vojvodina und Ungarn. Kann man ein verlorenes Meer empfinden, das es gab, als es den Menschen nicht gab? Ich glaube, es ist möglich. Hier spürt man, wie klein der Mensch ist.

Jetzt überspringen wir ein paar hunderttausend Jahre. Es ist nämlich auch ein guter Ort, um noch etwas Verlorenes zu zeigen: den sozialistischen Enthusiasmus. Der größte Teil von Neu-Belgrad, das Sie am gegenüberliegenden Ufer sehen, wurde durch freiwillige Arbeit gebaut. Viele Menschen waren sehr stolz, an dieser Aktion teilzunehmen, und man war auch im Allgemeinen stolz, Arbeiter zu sein. Mein Schwiegervater hat mir erzählt, dass die Arbeiter ihre Gesichter nach der Schicht in der Fabrik absichtlich nicht waschen wollten. Sie wollten sich vor den Mädchen wichtigmachen.

Dieses Gefühl hat sich aber schon unter Tito verflüchtigt, oder?

Tito hat Besitz verstaatlicht. Das hat er eine gerechte Aufteilung genannt. „Sozialer Besitz“ ist das Wort der Stunde. Privatbesitz war ausgestorben, es gab höchstens noch Kneipen in Dörfern und kleine Geschäfte in Städten, zum Beispiel einen Kuchenladen oder die Läden, in denen man Säfte verkaufte. Bildung und Krankenversicherung waren für alle zugänglich. Der Staat baute und verteilte Wohnungen an die Menschen, die gerade ihre Familien gründeten. Man hat sich den Frieden auf diese Weise erkauft. Dieser staatliche Besitz hat aber heute sehr negative Folgen. Viele Menschen behandeln, das, was allen gehört, als ob es niemandem gehört. Und zu Titos Zeit: Die kommunistische Elite lebte ein Bourgeois-Leben. Sie hatte nach den Enteignungen der Verlierer die besten Wohnungen und Villen in den besten Stadtteilen. Sie gingen auf die Jagd und machten Ferien an exklusiven Stränden. Dabei gehörte ihnen nichts. Sie rechneten aber damit, dass sie für immer an der Macht bleiben würden.

Wie bewerten Sie das alles?

Jene Epoche war sehr ambivalent. Die nationalen Strömungen hatten damals auf friedliche Weise und durch die Gewalt ihre Flügel verloren. Es gab zwar nur eine Partie, aber wir hatten eine sehr sanfte Variante des Kommunismus. Tito hat erkannt, dass er zwischen dem Westen und Osten balancieren kann. In Moskau galt er als prowestlich, im Westen als Verteidiger Europas gegen den Stalinismus. Er selbst hat sehr monarchistische Züge gehabt: Seine Anzüge hatten die beste Qualität, er trug Brillantringe und ging auf die Jagd. Tito war ein geschickter Politiker. Zwei Beispiele: Als in den 1960er Jahren die Arbeitslosigkeit anstieg, hatte er die geniale Idee, die Grenzen zu öffnen und Pässe zu verteilen. Die Leute wurden Gastarbeiter, und Tito schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Er war die unzufriedenen Menschen los, und das frische Geld kam zurück ins Land. Serbien lebt teilweise heute noch von diesen Geldern von Verwandten aus dem Ausland.

Dazu gehört aber nicht allzu viel Weitsicht, oder? Was ist das zweite Beispiel?

Die Gründung der Bewegung der blockfreien Staaten. Das Problem mit Tito war nur, dass sein ganzes System mit der Gehorsamkeit der Menschen rechnete. Mit seinem Tod bröckelte es. Leider war damals der Kult um eine Person wichtiger als die Einrichtung von Institutionen. Keine unserer politischen Persönlichkeiten hat dafür gesorgt, Institutionen aufzubauen. Solche Gesellschaften sind nicht erfolgreich, weil sie von einer Lotterie abhängen, von politischen und ökonomischen Bedingungen, davon, wer der Präsident sein wird... Die Gesellschaften mit besserer Grundlage können besser überleben, sowohl die schlechten Zeiten als auch die schlechten Politiker. Bei uns werden die Leute, die eine Vision haben, brutal still gestellt. Wie Djindjic.

In Ihrem Essay schreiben Sie von der Angst, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu können, weil man Sie ausgesperrt hat. Ist das ein Gefühl, das Sie mit Jugoslawien verbinden?

Ich neige eigentlich nicht zur Jugo-Nostalgie. Die Metapher des verlorenen Schlüssels habe ich im Essay anders gemeint. Für mich ist die Frage, ob wir Menschen heute noch fähig sind, den Weg zu uns selbst zu finden. Aber ich habe fast dreißig Jahre in dem Land, das Jugoslawien hieß, gelebt. Bei diesem Namen habe ich übrigens nicht nur den sozialistischen Staat im Kopf, sondern auch den Staat, der nach dem Ersten Weltkrieg gegründet wurde.

Und heute? Was denken Sie heute über die Situation auf dem Balkan?

Wenn ein Mensch ein Körperteil verliert, fühlt er es trotzdem noch. Man sagt, es juckt und tut weh, obwohl es amputiert wurde. Hier gab es zwei große Amputationen: Die des ganzen Landes und die eines Landesteiles, der Kosovo und Metochien heißt. Aber kehren wir lieber zum Einzelmenschen zurück. Ich spreche nicht gern über große Systeme, dafür braucht man mehr Zeit und mehr Kenntnisse. Wir sind mit der Familie oft umgezogen. Nicht von Stadt zu Stadt und nicht wegen historischer Ereignisse. Wir haben einfach die Wohnungen oft gewechselt. Bei jedem Umzug muss man die Möbel umstellen und neu zurechtschneiden. Was in der einen Wohnung optimal passte, ist jetzt zu groß, zu klein, zu rund oder zu eckig. Oder es gibt mehr Freifläche als vorher. Das kann man mit den Veränderungen im Land vergleichen. Dank der historischen Umstände, kam es oft zu solchen „Umzügen“. Der Balkan ist ein Gebiet, in dem vieles nach einem bereits beendeten Umzug aussieht: Die Möbel liegen noch auf einem Haufen, es ist noch nichts aufgeräumt und die Sachen haben ihren richtigen Platz noch nicht gefunden. Die Leute sind müde und verwirrt, sie können in diesem Haufen oft nicht das finden, was sie gerade brauchen. Dinge, mit denen sie nichts anfangen können, tauchen auf: die halb vergessenen Erinnerungen oder Sachen, deren früheren Sinn und Zweck wir völlig vergessen haben.

Vorhin haben Sie die Trauer um die jungen Leute erwähnt, die seit den 90er Jahren das Land verlassen. In „Die Villa am Rande der Zeit“ gibt es die Figur der jungen Jelena, die sich auch nichts sehnlicher wünscht, als das Land zu verlassen. Was sind die Gründe, dass die jüngere Generation keine Möglichkeit sieht, hier im Land einen Neuanfang zu gestalten?

So viele Menschen, so viele Antworten gibt es auch auf Ihre Frage. Und außerdem müsste man schauen, wann die Leute das Land verlassen haben. Wegen des Krieges. Aber jetzt gibt es den Krieg seit dreizehn Jahren nicht mehr, jetzt sind es vor allem wirtschaftliche Gründe. Was all diese Phasen verbindet: die Verengung des Spielraums und der Möglichkeiten. Und was Jelena angeht, die vor der Muttersprache fliehen will: Man kann nie vollständig fliehen. Es spielt keine Rolle, ob man eine neue Sprache perfekt beherrscht. Sie wird nie die gleiche Bedeutung haben, wie die Sprache, in der man als Kind Gedichte auswendig lernte. An einem Grenzübergang mag einem alles genommen werden oder man mag alles freiwillig von sich werfen – die Sprache schleppt man mit sich. Und umgekehrt: Die Sprache schleppt auch einen selbst mit sich.

Hana Copic wirft ein, für sie sei das anders. Sie sei in einer Zeit aufgewachsen, in der man sich Zuhause nicht mehr Zuhause fühlte. Sie habe zwar ihre Sprache nie verachtet und habe mit dreißig Jahren auch entschieden, dass ihr niemand ihre Muttersprache nehmen könne, aber diese „Niemande“, die das versuchten, waren auch unter ihren Landsleuten. Sie habe immer ein größeres Problem mit den Ihren als mit den Anderen gehabt. Im übrigen sehe sie auch im Ausland kaum Möglichkeiten, sich das Leben so einzurichten, wie sie es gern hätte. Auch da fühle man sich nicht gerade willkommen geheißen. Goran Petrović nimmt den Faden auf:

Vielleicht werden Sie denken, dass diese ganzen Geschichten über die Geschichte sinnlos sind. Aber sie sind Beispiele dafür, wie in der Geschichte die „kleinen Menschen“ verloren gehen. In einem durchschnittlichen Satz in einem Geschichtslehrbuch sind zigtausende Schicksale komprimiert. Geschichte und Geschichtsschreibung neigen zur „Reduktion“ des Lebens, neigen dazu, das Leben in Zahlen und Prozentsätze zu „verdichten“; die Literatur und das Erzählen erweitern das Leben, sie geben ihm seine humane Dimension zurück. Zeit für einen Kaffee!

(Im Café kommen wir auf das Verhältnis der „kleinen“ und „großen“ Staaten in Europa zurück.) Könnte es sein, dass die „großen“ Staaten von den „kleinen“ nicht nur weniger wissen, weil sie arrogant oder eitel sind, sondern auch weil da etwas verdrängt wird? Immerhin haben sich Ereignisse von weltpolitischer Tragweite immer wieder auf dem Balkan abgespielt, um beim Beispiel dieser Region zu bleiben.

Möglich, dass es Verdrängung ist. Mich interessiert noch etwas anderes. Worte wie Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Multikulturalität werden in meinen Augen überschätzt. Das heißt nicht, dass ich die Ideen dahinter nicht achte, sie funktionieren nur im Alltag oft nicht. Ein banales Beispiel: Jemand spricht sehr korrekt von Mulitkulturalität, möchte aber diesen „Anderen“ nicht als Nachbarn haben. Ich bin mir auch nicht sicher, dass die Demokratie im Zentrum von Paris und in den Banlieues gleich empfunden wird. Die Welt ist immer noch ein brutaler Ort, obwohl sie nie reicher war. Dazu kommt die Geschichtsfälschung, die gar nicht mal bewusst stattfindet. Wie ich es Ihnen gestern schon gesagt habe: In der Fülle der Informationen verschwindet die Wahrheit.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Es ist mir ein bisschen unangenehm, aber ich erzähle von einem Erlebnis in Berlin. Die Stadt hat mir sehr gut gefallen, und ich habe versucht, sie zu erkunden. Unter anderem habe ich die „Topographie des Terrors“ besucht. In diesem Museum wird von den zivilen Opfern erzählt. Es sind keine Gegenstände ausgestellt, sondern tausende von Fotos. Alles ist gut erklärt und erbarmungslos, auch sich selbst gegenüber, dargestellt. Für mich ist im letzten Drittel der Ausstellung ein Problem entstanden. Da wird von Opfern erzählt, nach Ländern geordnet. Auf einigen großen Tafeln gibt es über hundert Fotos von Zivilopfern in Russland, auch sehr viele Fotos von den Opfern in Frankreich. Serbien ist mit fünf Fotos dargestellt. Einige Verbrechen wurden eigentlich als Zufall beschrieben. Das Massaker in Kraljevo wurde überhaupt nicht erwähnt. Die Erschießungen in Kragujevac wurden erwähnt, aber nicht, dass man eine ganze Gymnasialklasse erschossen hat. Mein Eindruck ist, dass der Kurator dachte, Serbien ist ein kleines Land, das geht auch so. Und bei den größeren müssen wir uns mehr Mühe geben. Noch schlimmer für mich ist, dass kein serbischer Historiker oder Politiker Einspruch erhoben hat.

Was auch immer die Gründe waren, die möglicherweise rein pragmatischer Natur sind und mit den Möglichkeiten der Ausstellung zu tun haben könnten: Ich vermute, dass wir hier durchaus wieder nach der Frage von Verdrängungen in Europa sind. Da waren nicht nur fünf Fotos, weil Serbien ein kleines Land ist, vermute ich. Würde man diesem Teil der Geschichte mehr Aufmerksamkeit schenken, müsste man auch über die Folgen der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg für spätere Zeiten nachdenken. Man müsste über die indirekte Mitschuld der Deutschen an den Kriegen der 90er Jahre sprechen. Serbien galt damals in Deutschland als Täterland, über die deutsche Beteiligung wurde kaum gesprochen.

Nichts kann dadurch gelöst werden, wenn ein Jahr X ausgewählt würde und die Geschichte erst ab diesem Jahr betrachtet würde. Und nun gibt es Leute die dazu neigen, ein Jahr X auszusuchen, und alles, was davor war, als weniger wichtig zu betrachten und alles, was danach geschehen ist, „im Namen der Wahrheit“ als erklärungsbedürftig zu bestimmen. Wir können nicht über die Zentrifugalkraft reden und dabei die Zentripetalkraft ignorieren. Und umgekehrt.

Die Kriege der 90er Jahre betrachte ich als einen Sammelkrieg, der viele kleinere Kriege umfasst: antinationalistische Elemente, soziale, ethnische und religiöse Konflikt. Diese Spannungen, die nicht geheilt wurden, stammen aus verschiedenen Epochen. Weil man sie immer wieder unter den Teppich gekehrt hat, wurden die Probleme nie gelöst. Was ich jetzt sage, hört sich fürchterlich an, aber ich glaube, dass sie auch jetzt noch nicht gelöst sind. Man kommt immer noch nicht klar, und der Schwelbrand kann, in anderen historischen Umständen, auch wieder entflammen.

Was würde helfen? Kunst? Literatur?

Ich bin nicht der Ansicht, dass Kultur international sein muss. Dabei stört mich nicht das Wort „international“, aber das Wort „muss“. Es gibt viele Philosophen, die das besser begründen können. Ich stelle mir Kultur wie eine Spirale vor. Unser Auge sagt, dass sie sich in sich hinein dreht und im nächsten Augenblick scheint es, als drehe sie sich aus sich heraus und in die andere Richtung, nach außen. Keine Kultur kann alleine überleben. Eine Kultur besteht nur in der Mehrzahl und kann trotzdem im Singular vorkommen, kann national sein. Aber solche Sozialisierungen kann man kaum durch Gesetze erreichen. Jede Gesellschaft verteidigt sich, manche mehr, manche weniger. Es ist kein Wunder, wenn man einen Franzosen trifft, der kein Englisch spricht. Ich bin übrigens der Meinung, dass das Englische die Sprache ist, die am meisten gefährdet ist. (lacht) Weil alle sie sprechen, und wir sie nicht von Shakespeare, sondern durch die vereinfacht übersetzten Filme aus der Videothek und durch Popmusik lernen. Wenn ich Engländer wäre, ich wäre völlig verzweifelt. Man sagt, dass weltweit einhundertzwanzig Sprachen im Jahr verschwinden. Wenn einhundertzwanzig Sprachen verschwinden, verschwinden auch einhundertzwanzig Erzähltraditionen, mündliche Literaturen. Das Gute-Nacht-Lied kann nur in der Muttersprache gesungen werden. – Jetzt will ich Ihnen noch zwei Museen zeigen: das Freskenmuseum und die temporäre Ausstellung im Nationalmuseum.

Auf dem Weg erklärt Hana Copic uns, dass das Freskenmuseum in einem Gebäude untergebracht ist, das früher eine Synagoge war. Als wir ankommen, finden wir darauf aber keine deutlichen Hinweise. Von Goran Petrović wollen wir noch einmal genauer wissen, warum ihm dieses Museum so wichtig ist.

Ich habe Sie mit einem gewissen Stolz hierher gebracht. Allerdings befinden sich hier nur Kopien. Um die Originale zu sehen, müssten Sie dreihundert Kilometer nach Süden fahren. Der serbische mittelalterliche Staat bestand als klassischer Staat zwei bis drei Jahrhunderte. Es war die Zeit, in der sich das Land zwischen dem Osten und dem Westen befand. Es gab damals kein Zentrum, die Königssitze wechselten und die Festungen waren jeweils einen Tagesritt voneinander entfernt. Das Schreibwesen war dort, wo die Kirche war. Regiert wurde wie überall auf der Welt durch die Religion. So, wie man später mit der Eisenbahn regierte und heute durch Internet und Informationen. Kunst und Architektur waren mit den Klöstern verbunden, was nicht ungewöhnlich in der Europäischen Kunst war. Aber, um ehrlich zu sein, ich habe Sie hierher gebracht, um zu zeigen, was einem Serben Kosovo und Metochien bedeutet. Ich wollte die Phrase vermeiden, dass Kosovo und Metochien als ein Teil des Landes empfunden werden. Das Wort Kosovo stammt von dem Wort Kos ab, was eigentlich Amsel heißt und Metochien bedeutet Klosterbesitz. Man vermeidet heute, Metochien zu erwähnen, weil es linguistisch so klingt, als erhebe man einen Anspruch.

Nehmen Sie den Konflikt um diese Region als einen von außen dirigierten oder als einen innerbalkanischen Konflikt wahr?

Die Kosovo-Albaner wollten immer unabhängig sein. Es ist kein neuer Konflikt. Schon für Kaiser Alexander war das Problem nicht lösbar. (Wir betreten das Gebäude und Goran Petrović erklärt uns das Bildprogramm. Eine Karte, die die Standorte der Klöster, aus denen die Fresken stammen, verzeichnet, erweist sich als ein deutsches Produkt. Goran Petrović zeigt uns Engelsfiguren, die an Jugendstil-Malerei erinnern.) Das sind Cherubim. – Die Darstellungen sind ansonsten sehr realistisch. Man weiß heute über das damalige Leben ziemlich viel durch solche Freskos: wie man sich anzog, die Arbeitsgeräte, Musikinstrumente.

Kosovo hat also diese große Bedeutung für die Serbien, weil es für die Traditionen und den Glauben ein wichtiges Zentrum des Landes ist?

(Goran Petrović nickt.) Jetzt müssen wir zum Nationalmuseum aufbrechen. Meine Frau möchte Ihnen eine Führung durch die Ausstellung geben.

(Auf dem Weg kommen wir an der Philologischen Fakultät vorbei, die an einer belebten Hauptstraße liegt. Ein schmächtiger Herr huscht an uns vorbei. Der frühere Dekan und Chef der Germanistik, erklärt Hana Copic.) Haben Sie beide hier studiert?

Hana Copic hat im vierten, ich habe im ersten Stockwerk studiert. Gegenüber auf der anderen Seite des Platzes befinden sich die Fakultäten der Mathematik und der Naturwissenschaften. Die Leute auf dieser Seite denken, dass man alles mit Worten erklären kann, die von da drüben hingegen, dass man alles mit Zahlen erklären kann. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte, im Park. (An einer Bushaltestelle kündigt H&M die Eröffnung der ersten Filiale in Belgrad an, dann erreichen wir schon den unscheinbaren Seiteneingang, der zur temporären Ausstellung des Nationalmuseums führt.)

Wieder meine Frage: Warum wollten Sie beim Thema „Lost Worlds“, dass wir das Nationalmuseum besuchen bzw. diese Ausstellung über die Zeit Kaiser Konstantins?

Sie sollen einen Eindruck von den Kulturen bekommen, die auf diesem Gebiet vorkommen. Für mich als Schriftsteller ist es wichtig, die Gegenstände nicht als Gegenstände zu betrachten. Mich interessiert ihr Kontext und ihr Kontakt zu den Menschen. Aber lassen Sie uns erst einmal reingehen. (Goran Petrovićs Frau Vera führt uns mit ihrem Assistenten durch die Ausstellung, die unter anderem das berühmte Porträt von Konstantin dem Großen, der in Niš geboren wurde, und die Belgrader Kamee aus Opal, die eine Reiterszene zeigt und ebenfalls aus Konstantins Zeit stammt. Sie erklärt, dass die Epoche, die durch Funde auf serbischem Gebiet anschaulich werden soll, für eine Zeit steht, in der eine Idee von Toleranz praktiziert und mit der Mailänder Vereinbarung gesetzlich legitimiert wurde.)

Was haben Sie in den Ausstellungsobjekten gesehen?

Ich habe zum Beispiel nicht nur den silbernen Teller gesehen, sondern auch die Finger, die ihn gemacht haben und dann den Arm, der zu den Fingern gehört, schließlich auch das zugehörige Gesicht. Dann habe ich die Finger und die Hände des Teller-Besitzers gesehen und wie er Essen in den Teller füllt. Danach habe ich darüber nachgedacht, wie viel Angst er haben musste, dass der Teller gestohlen wird, und wie er überlegte, wo er ihn verstecken könnte. Wer ihn dort wohl gefunden hat? Über alle diese Gesichter, Hände und Finger der Menschen, die den Teller von Epoche zu Epoche reichten, damit er uns erreichen konnte, habe ich nachgedacht. Meiner Meinung nach gibt es hinter allem eine Geschichte, welche wir wie einen Teller weiterreichen. Auch ein silberner oder goldener Teller ist nutzlos, wenn er niemandem übergeben wird.

Interview: Insa Wilke