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Martin Pollack
Adania Shibli
Serhij Zhadan >

Martin Pollack

Österreich

"Als ich mit zehn Jahren ins Internat kam, war er einer der ersten, dem ich begegnete. Ein großer, stämmiger Junge mit Hut, vielleicht sechzehn Jahre alt. Es war vor allem der Hut, der ihn in meinen Augen erwachsen erscheinen ließ. Dass ein Junge einen Hut trug, war damals ungewöhnlich, beinahe unerhört. Hüte waren etwas für ältere Männer, auch für Frauen – Kinder oder Jugendliche mit einer solchen Kopfbedeckung wirkten lächerlich, herausgeputzt und affi g. Nicht so der Junge, von dem hier die Rede ist. Er hatte überhaupt nichts Lächerliches an sich, im Gegenteil, er sah imponierend aus. Mit oder ohne Hut. Er war Russe und hieß Nikolaj Isotow, wurde jedoch von allen nur Nik genannt. Zu jener Zeit, das war Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, gab es in meiner Internatsschule zahlreiche Flüchtlingskinder, Russen, Ukrainer, Weißrussen, Jugoslawen, Bulgaren, Ungarn und auch so genannte Volksdeutsche. Kinder oder Jugendliche, die der Krieg mit ihren Eltern, falls sie noch welche hatten, nach Österreich verschlagen hatte. Es gab auch genug Waisen unter ihnen. Zumeist lebten sie in Lagern, Barackensiedlungen, auch Brettel dörfer genannt, weil die Baracken aus einfachen Brettern, im österreichischen Volksmund Bretteln, zusammengezimmert waren. Dort warteten sie, von Hilfsorganisationen notdürft ig versorgt, auf die Weiterreise nach Übersee, in die USA, nach Kanada oder Australien, um sich in der fremden Welt eine neue Existenz aufzubauen. Flüchtlinge und Vertriebene. In der Amtssprache hießen diese Menschen Displaced Persons, kurz DPs, weil sie sich, infolge des Krieges, außerhalb ihres Heimatlandes befanden und aus eigenen Mitteln nicht zurückkehren konnten. Wir nannten sie Dipis, was in kindlichen Ohren lustig klang, obwohl sie in ihrem von Not und Elend geprägten Alltag wenig zu lachen hatten. Die amerikanischen Behörden, die den Begriff Displaced Persons geprägt hatten, schätzten ihre Zahl in Europa bei Kriegsende auf mindestens 11 Millionen."