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„Den Menschen prägen auch die Dinge, die er verloren hat.“

An der Seite von Goran Petrović durch Belgrads Geschichte(n)

An einem regnerischen Augustabend stehen wir mit dem Schriftsteller Goran Petrović und der Kulturwissenschaftlerin und Übersetzerin Hana Copic rauchend vor dem Hotel Excelsior in der Kneza Miloša. Wendet man den Blick nach rechts, thront dort hinter einer sechsspurigen Straße das serbische Parlament mit seiner türkis-kupfernen Kuppel. Unser Hotel liege mitten im politischen Zentrum der Stadt und des Landes, erklärt Goran Petrović, bevor wir uns auf den Weg machen zu einer ersten Führung zu seinen verlorenen Orten der Kulturmetropole des Balkans. Im Gehen erzählt Petrović:

Kaum einer weiß, dass in diesem Hotel Miloš Crnjanski gelebt hat. Er und Ivo Andrić sind unsere größten und wichtigsten Prosa-Schriftsteller. Beide waren Diplomaten. Andrić ging 1939 als Entsandter nach Berlin und kehrte 1941 nach der Bombardierung Belgrads in die Stadt zurück. Er hat während der gesamten Kriegszeit geschrieben, aber wollte seine Werke nicht veröffentlichen.

Und was war mit Crnjanski?

Bis zum zweiten Weltkrieg war Crnjanski Gesandter in Rom. Manche meinen, er sei ein Rechter gewesen. Ein Linker war er auf jeden Fall nicht. Sicher ist, dass er den Kommunisten nicht genehm war, deswegen durfte er nach dem Krieg nicht nach Jugoslawien zurück. Er hat während des Krieges und danach, insgesamt 25 Jahre lang als Emigrant in London gelebt. Erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt holte Tito ihn über seine „Gesandten“ nach Belgrad: als politische Geste, um Westeuropa zu zeigen, was für ein demokratisches Land sein Jugoslawien ist. Damals verbrachte Crnjanski einige Monate im Hotel Excelsior. – Unabhängig davon, welchen Namen dieses Land gerade hatte, es wurde oft und von Vielen verlassen. Als Sie vorhin aus dem Flugzeug gestiegen sind und sich auf dem Flughafen „Nikola Tesla“ befanden, waren Sie an dem Ort des größten Verlustes in der neueren Geschichte. Das übliche Wort „Abflüge“ hat hier eine besondere Bedeutung. In den letzten fünfzehn oder zwanzig Jahren haben ein paar hunderttausend junge Menschen das Land verlassen. Das ist sehr traurig.

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„Wir sind alle aus der Kindheit vertrieben“

Mit Antonio Muñoz Molina auf den Spuren „Verlorener Welten“ in Madrid

Das Café Comercial ist eines der beiden letzten alten, traditionellen Cafés in Madrid. Es wurde 1887 gegründet und ist zu einem Treffpunkt für Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle geworden. Der spanische Schriftsteller Antonio Muñoz Molina hat dieses historische Café mit seinen großen Fenstern und den alten Möbeln für unser erstes Gespräch über „Verlorene Welten“ gewählt. Einen wichtigen Handlungsort seines letzten Romans „Die Nacht der Erinnerungen“ haben Frank und ich auf eigene Faust am Tag zuvor besucht: die „Ciudad Universitaria“, die Universitätsstadt. Als wir erwähnen, dass wir dort auch die Philosophische Fakultät besucht haben und durch ziemlich verschmutzte Fenster in deren Bibliothek spähten, beginnt Antonio Muñoz Molina sofort zu erzählen:

In der historischen Bibliothek der Philosophischen Fakultät finden Sie immer noch Kugeln in den Büchern. Sie wurden benutzt, um einen Schutzwall zu bauen. Unglaublich, oder?

War die Philosophische Fakultät wirklich einer der Orte, an dem die Menschen während des Bürgerkriegs erschossen wurden, wie Sie es in „Die Nacht der Erinnerungen“ beschreiben?

Es stimmt. Die Universitätsstadt liegt am Rand der Stadt. Es war sehr leicht jemanden ungesehen dorthin zu bringen. Sie schnappten die Menschen damals in ihren Wohnungen und brachten sie dorthin – wie es meiner Hauptfigur Ignazio Abel passiert. Das Gelände war verlassen und mitten in der Nacht war es dunkel. Aber die Leute wurden nicht an der Bibliothek direkt erschossen. Sie wurden auf dem Gelände bei den halbfertigen Anlagen unter freiem Himmel ermordet. Die Kugeln kamen erst später in die Bücher, als die Universitätsstadt ein Kampfplatz wurde, ein Teil der Front.

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Lauter Einzigartigkeiten

Insa Wilke mit Aris Fioretos im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité

„Nierensteine.“ Der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos hat uns vor einen wandgroßen Setzkasten mit bunten Kostbarkeiten geführt und erklärt heiter, was da zu sehen ist. Wir sind im Medizinhistorischen Museum der Charité, das 1899 von dem Pathologen Rudolf Virchow gegründet wurde. 300 Jahre Medizingeschichte und 750 Feucht- und Trockenpräparate werden hier ausgestellt.

Fioretos, Sohn eines Mediziners, lebt in vielen Ländern und Sprachen: Sein Vater war Grieche, die Mutter stammt aus Österreich. Geboren und aufgewachsen ist er in Schweden, hat in den USA studiert, wohnt heute aber in Berlin. Ein Lebensweg, der geradezu vorgeschrieben hat, was ihn als Autor in seinen Werken immer wieder beschäftigt: die Erinnerung und der Verlust von Orten, Menschen und Worten. Für unser Gespräch über „Lost wor(l)ds“ hat Fioretos nach einem Auftakt in seiner Berliner Wohnung diesen Ort gewählt. Dabei interessiert er sich nicht für die Publikumsrenner des Museums, den „Froschkopf“ zum Beispiel, der im dritten Stock heiter und gleichmütig in Formaldehyd schwimmt und in die Ferne träumt. Es ist dieser Setzkasten, der an ein Kunstwerk von Damien Hirst erinnert, der ihn fasziniert.

Schauen Sie, lauter Einzigartigkeiten. Verschiedene Sorten, Größen und Farben. Manche sind gestreift, andere gepunktet, diese hier viereckig...

Einige haben sogar kristalline Strukturen ...

Würden wir diese Steinchen anderswo sehen, kämen wir kaum auf die Idee, dass es Nierensteine sind. Außerhalb ihres Kontextes können wir sie nicht mehr identifizieren.

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